SFB, Kirchplatz, 26.10.2002

TOD VOR DER GEBURT

Die Situation kam plötzlich und unvorbereitet. Die Diagnose ist eindeutig: das Baby in ihrem Bauch ist tot: Ihr Baby. Nun möchte sie den toten Körper schnell loswerden. Doch ein totes Kind wird in der Regel wie jedes andere geboren. Nachdem die Wehen künstlich eingeleitet werden, kann sich die Prozedur noch über Tage hinziehen. Ingrid Hamel, Pfarrerin an der Charité in Berlin, begleitet die Mutter durch diese Zeit. "Viele haben Angst, sich nach der Geburt noch einmal mit dem toten Baby zu beschäftigen. Bereuen aber ihr Leben lang, wenn sie es nicht tun." Sie weiß aus Erfahrung, dass man nur loslassen kann, was man zuvor besaß. "Wenn die Mütter ihre Kinder nie in Händen hielten, können sie sie auch nicht weggeben."

Daher legt sie der jungen Frau nahe, das tote Kind später in den Arm zu nehmen, eventuell zu waschen und einzuwickeln. Vielleicht sogar zu taufen. Nach drei Tagen kommt Maria in der 27. Schwangerschaftswoche zur Welt. In Handtücher gewickelt tragen die Eltern die Tote in den Raum der Stille. Ruhig tauft Ingrid Hamel das kleine Wesen. Sie wird oft von kirchlicher Seite für diesen Akt kritisiert, nach deren Meinung nur lebendige Menschen getauft werden dürfen. Doch da die Pfarrerin weiß, was dieser Schritt für die Eltern bedeutet, hält sie daran fest. "Rituale dienen dazu, innere Prozesse im Außen sichtbar zu machen. Die stille Sprache der Symbolik fördert unser Verstehen und das Verarbeiten auf einer tieferen Ebene. Es hilft unserem inneren Wesen, die Veränderung zu integrieren."
Die Hilfe, die die Seelsorgerin anbietet, fehlt in den meisten Krankenhäusern. Allein Ingrid Hamel ist in der Charité für 1100 Patienten zuständig. Dass die beiden Seelsorgerinnen sich im Besonderen um Mütter mit Fehlgeburten kümmern, beruht auf einem Zufall. Im Normalfall sind die Betroffenen auf die Mitarbeit des zuständigen Arztes oder der Hebammen und Krankenschwestern angewiesen. Doch diese sind oft selber überfordert, haben Berührungsängste oder wissen einfach nicht mit der psychologisch schwierigen Situation umzugehen. Sie haben es nie gelernt. Dabei endet jede vierte oder fünfte Schwangerschaft in einer Fehlgeburt. Tot geboren wird ungefähr jedes 133. Baby in Deutschland.

Die Charité Uniklinik nimmt auch Schwangerschaftsabbrüche bei negativen Ergebnissen von Pränataler Diagnostik vor. In diesem Fall wird die Arbeit für Ingrid Hamel besonders schwierig. Die betroffenen Eltern bekommen von gesellschaftlicher Seite das Gefühl vermittelt, dass sie keine Erlaubnis zum Trauern haben. Sie müssen mit möglichen Gefühlen von Schuld und Scham, die schon bei einer natürlichen Fehlgeburt schwer zu bewältigen sind, isoliert umgehen. "Wenn uns die Entscheidung abgenommen wird, das heißt, wenn es aufgrund einer Fehlbildung zu einer spontanen Fehlgeburt kommt, können wir nichts dazu oder dagegen tun. Wir werden nicht gefragt und das ist einfacher für uns," erklärt die Pfarrerin die Problematik. "Aber wenn wir angesichts einer erkannten Fehlbildung selbst über Leben und Tod eines eigentlich erwünschten Kindes entscheiden und die Verantwortung dafür tragen müssen, macht dies unsere Not größer und unsere Trauer komplizierter." Gemeinsam mit der katholischen Seelsorgerin Gabriele Weiss bietet sie den Eltern auch an, die Kinder gemeinsam zu beerdigen. Was die beiden Frauen den verwaisten Eltern bieten ist nicht üblich. Denn solange ein totes Kind unter tausend Gramm wiegt, muss es nach dem Gesetz nicht beerdigt werden. Erlaubt ist das erst ab 500 Gramm. Dabei ist der Fötus schon in der 20. Woche bis auf die Lungen relativ weit entwickelt, rund 450 Gramm schwer und 25 cm groß. Meistens scheitert die Bestattung am finanziellen Aufwand, der, gleich einer Erwachsenenbeerdigung, um die 1500 Euro beträgt. Die Maria-Heimsuchung Caritas-Klinik in Berlin kaufte 1999 den Platz für die Gräber, auf denen jeder totgeborene Fötus der eigenen Geburtsstation, sowie aus der Charité Uniklinik, beerdigt wird.

Die Reportage begleitet Ingrid Hamel bei ihrer Arbeit. Betroffene Frauen reflektieren über die Bedeutung des Trauerns und über die Notwendigkeit, Abschied zu nehmen. Der Film will nicht richten, sondern auf Schwierigkeiten sowie gesellschaftlichen Zwang hinweisen und zeigen, wie Frauen geholfen werden kann.

Autor und Regisseur: Matthias Zuber/ polyeides medienkontor