SFB, Kirchplatz, 24.03.2000

Illegale Kinder?

Flüchtlinge zwischen Hoffnung und Resignation

Sie kommen allein. Sie sind Kinder. Auf Bahnhöfen, Autobahnraststätten, Flughäfen oder anderen öffentlichen Plätzen werden sie von der Polizei aufgegriffen. Zwischen 5.000 und 10.000 minderjährige, ausländische Flüchtlinge ohne Begleitung werden jährlich in Deutschland gemeldet. Ihre Geschichten erzählen von Not, Folter, Tod und Vertreibung. Doch in der Bundesrepublik ist ihr Leidensweg im Dickicht der Ausländergesetzgebung zwischen Clearingstelle, Ausländerbehörde, Abschiebeverwahrung und Jugendheim noch nicht zu Ende. Das deutsche Aufnahmeverfahren für die jungen Flüchtlinge verstößt in mehreren Punkten gegen die UN-Kinderrechtskonvention, die die Bundesrepublik unterzeichnet hat. Der Film begleitet vier der "illegalen Kinder" durch ihren Alltag in Berlin.

Ali ist 12 Jahre alt. Er kam vor zwei Monaten nach Berlin. Allein und illegal. Er kam aus Algerien, das er vor etwa fünf Jahren verlassen hat. Sein Kinderzimmer waren die Straßen. Seine Eltern hat er nie kennengelernt. Wie alle Minderjährigen, die in Berlin ohne Papiere und ohne Begleitung von Erwachsenen aufgegriffen werden, landete Ali hier in der Clearinstelle in Treptow. Sie heißt offiziell "Erstaufnahme und Clearingstelle" und ist ein Heim, in dem die Kinder ersteinmal versorgt werden. Das Haus ist oft der erste feste Halt in einem rastlosen Leben zwischen Angst und Hoffnung - zumindest auf Zeit. Von hier aus werden Ämtergänge, Artztbesuche, Deutschkurse und der Schulbesuch organisiert. Zur Zeit sind hier über 50 Jungen und Mädchen aus über 20 Nationen untergebracht. Die Jüngsten sind drei, die Ältesten 18 Jahre alt. In Algerien lebte Ali - so lange er denken kann - auf der Straße. Irgendwann nahm ihn ein Mann auf. Ali weiß nicht mehr genau, wann das war. Ali nannte ihn "Onkel". Als Ali sieben Jahre alt war sagte der Onkel, dass Ali nun alt genug sei, auf sich alleine aufzupassen. Auf der großen Metallkiste zwischen den Rädern eines Lastwagens versteckte sich Ali tagelang als blinder Passagier und kam so nach Spanien. So etwas wie eine Kindheit hatte er nie. Er lebte von Diebstählen von einem Tag auf den anderen ohne Perspektive. Erst die Suche "nach einem Land, in dem es mir gut geht", wie er sagt, brachte so etwas wie eine Richtung in sein Leben. Ali erzählt: "Ich bin nach Marokko gegangen. Von dort aus bin ich dann weiter in den Grenzort Ceuta. Ich bin gelaufen, gelaufen und gelaufen, bis ich endlich angekommen bin. Von dort versuchte ich nach Spanien rüber zu kommen. Doch die Polizei hat mich erwischt und wieder zurück nach Marokko geschickt. Ich habe das dann noch öfter versucht. Irgendwann habe ich es dann geschafft bis nach Barcelona zu kommen. Dort bin ich dann erst einmal geblieben. Ich habe auf der Straße gewohnt und von Diebstählen und dem Handel mit Drogen gelebt. Das war's. Danach bin ich nach Italien. Dann bin ich nach Brüssel und von Brüssel nach Köln und von da nach Düsseldorf. Kurz vor Düsseldorf wurde ich in einem Zug von der Polizei festgenommen. Die hat mich in ein Erwachsenengefängnis gesteckt. Dort bin ich dann über Nacht geblieben. Am nächsten Tag kam ein Arzt, der sah, dass ich verletzt war und der sorgte für meine Freilassung. Dann haben sie mich in ein Heim gesteckt. Im Heim sagte einer aus Argentinien: "dort drüben ist die Bahnstation; hau einfach ab." Ich bin dann mit dem Zug in eine große Stadt gefahren und anschließend nach Berlin und dort hat mich wieder die Polizei festgenommen und in dieses Heim gebracht." Der Tagesablauf in der Clearingstelle versucht westeuropäische Normalität zu spiegeln. Die Kinder, die bereits einen Schul- oder Deutschkurs-Platz haben, gehen früh aus dem Haus. Die anderen bleiben meist hier, verbringen den Tag mit Tischfußball, Tischtennis oder Fernsehen. Ali will nicht in die Schule, das sei etwas für Kinder. Wer auf der Straße aufgewachsen ist, läßt sich nicht so einfach in einen geregelten Alltag eingliedern. Das Jugendheim ist eine offene Einrichtung. Deshalb kommt es auch immer wieder vor, dass Kinder einfach abhauen. Doch für die meisten ist das Haus eine Art erster Ruhepunkt in einem Leben auf der Flucht. In wenigen Tagen wird das Gericht eine Amtsvormundschaft für Ali bestimmen. Die wird von der "Vormundschaftsstelle für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge" im Jugendamt Treptow ausgeübt. Dort sind drei Beamte für über 420 Mündel zuständig. Nach Paragraph 1793 des Bürgerlichen Gesetzbuches gehört zu den Aufgaben eines Vormundes der gesamte Bereich der elterlichen Fürorge. Der Vormund muss sich um das leibliche und finanzielle Wohl seines Mündels kümmern und ist dessen gesetzlicher Vertreter. Die Amtsvormundschaft wird dann einen Asylantrag für Ali stellen. Das sei, so die Argumentation der Behörde, der einfachste Weg den Aufenthalt eines illegalen Kindes zu legalisieren. Dieses offensichtlich standardisierte Verfahren ist nicht unumstritten.

Sergej ist einer jener, die in keiner Statistik auftauchen. Seit drei Jahren lebt er in Berlin illegal. Wohlfahrtsverbände schätzen, dass über 100.000 Menschen illegal in Berlin leben. Davon viele Kinder. Als Sergej hier ankam, war er 15 und alleine. Sergej kommt aus Moskau. Sein Vater war ein Alkoholiker und ging am Wodka zugrunde als Sergej 13 war. Auch seine Mutter kümmerte sich kaum um ihn. Es gab viel Prügel und wenig zu essen. Mit 14 schloß er sich einer Moskauer Kinder-Straßengang an, die von einer "Familie" unterstützt wurde. "Familie" ist die euphemistische Umschreibung für eine Bande von organisierten Kriminellen. Sergej begeht im Auftrag Diebstähle und Einbrüche. Irgendwann überwirft er sich mit seiner "Familie", muss weg. Über Polen gelangt er mit einem Kumpel nach Deutschland. Sergej ist 15, als er vom Bundesgrenzschutz geschnappt wird. Aus dem deutschen Kinderheim in der Provinz haut er ab. Er geht nach Berlin, wo sein Kumpel Anschluß an eine neue "Familie" gefunden hat. Nach kurzer Zeit trennt er sich von dieser. Er will sein eigenes Leben leben. Er spricht inzwischen ziemlich gut Deutsch und ist in einer Wohngemeinschaft mit anderen Deutschen untergekommen. Sein Geld verdient er durch Schwarzarbeit. Er versucht ein normales Leben zu leben, nur nicht aufzufallen. Private soziale Kontakte sind schwierig. Da Sergej immer in der Gefahr lebt, als Illegaler entdeckt zu werden, beginnt jede Beziehung mit einer Lüge über seine eigene Geschichte. Wirkliche Nähe ist deshalb nie möglich. Bekanntschaften sind immer nur flüchtige Berührungen. Kurze Zeit später wird Sergej verhaftet. Er soll zurück nach Rußland abgeschoben werden. Außerdem läuft noch ein Verfahren gegen ihn wegen eines Diebstahls, den er vor zwei Jahren begangen hat. Er sitzt mehrere Monate im Abschiebegewahrsam in Köpenick. Er ist immer noch keine 18 Jahre alt. Rußland läßt sich Zeit, Sergejs Papiere an die deutschen Behörden zu schicken. Ohne die kann er jedoch nicht nach Moskau gebracht werden. Im Abschiebegewahrsam lernt er die Jesuiten vom Flüchtlingsdienst kennen. Dieter Müller ist einer von ihnen. Er kommt zweimal in der Woche hierher. Jeden Freitag feiert er einen Gottesdienst gemeinsam mit den Abschiebehäftlingen. Der einzige mögliche "Ausbruch" aus dem Knast-Alltag. Sergej und Ali sind hier Kinder zweiter Klasse. Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben, jedoch nur mit dem Vorbehalt, dass ausländerrechtliche Regelungen unberührt bleiben. So gelten ausländische Kinder bereits ab Sechzehn als juristisch handlungsfähig. Eine Tatsache, die auch Kate Halvorsen vom UN Hochkommissariat für Flüchtlinge kritisiert: "Ich hoffe, dass die Mißstände, die wir in Deutschland sehen in Bezug auf die Altersdifferenzierung, die Alterseinschätzung und den Abschiebegewahrsam bei unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen verbessert werden. Denn viele unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge werden hier über einen längeren Zeitraum in Haft genommen. Kaum eines dieser Kinder erhält einen juristischen Beistand während des Asylverfahrens. Das alles sind Beispiele, die wir als Mißstände im Umgang mit unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland betrachten." Alis Weg in die Zukunft ist ungewiß. Eines jedoch ist nahezu sicher; sein Asylantrag wird als unbegründet abgelehnt werden. Noch eine Negativzahl in der Statistik des Bundesamtes für Asyl.

Abel kommt aus Angola. Dort herrscht seit Jahrzehnten Bürgerkrieg. Gemeinsam mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Osvaldo flüchtete er vor zwei Jahren nach Deutschland. Abels und Osvaldos Eltern wurden ermordet. Ihr eigenes Leben bedroht. Auch sie landeten wie Ali als erstes in der Clearingstelle. Doch die Bilder aus ihrer Heimat haben sich tief in ihre Seelen eingegraben. Auch für Abel und Osvaldo stellte die Amtsvormundschaft einen Antrag auf Asyl. Zwar wurde der Proforma- Antrag abgelehnt, aber die beiden Brüder hatten dennoch Glück. Das Ehepaar Waltraud und Manfred Püschel übernahmen die private Einzelvormundschaft für Abel und Osvaldo. Der Gesetzgeber sieht nämlich vor, dass in der Regel private Einzelvormundschaften den Vorzug vor Amtsvormundschaften haben sollen. Anders als der Amtsvormund geben sich die Püschels mit dem Ablehnungsbescheid nicht zufrieden. Sie versuchen alles, damit ihre Mündel nicht nach Angola in den Krieg zurück müssen. Abel und Osvaldo leben schon seit über einem Jahr nicht mehr in der Clearingstelle, sondern in einem Jungenheim für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge im Norden Berlins. Jeder der beiden Brüder kommt jeweils mindestens zweimal die Woche zu Püschels nach Kladow. Die Püschels helfen Abel und Osvaldo außerdem bei Ämtergängen und sonstigem Papierkram. Abel geht wie sein Bruder Osvaldo zur Schule. Seine Vorbilder sind schwarze, amerikanische Rap-Musiker, die vom Ausgestoßensein und dem harten Leben auf der Straße singen. Osvaldo und Abel spielen beide in einem Kladower Sportverein Fußball. Abel in der C- und Osvaldo in der D-Jugendmannschaft der Sportfreunde Kladow. Zweimal in der Woche ist Training, das sie meistens mit einem Besuch bei ihren Vormündern verbinden. Osvaldo spricht - wie auch Abel - nicht über seine Erlebnisse in Angola. Beide Brüder haben Angst, dass sie wieder in ihre Heimat, zurück ins Chaos, müssen. Sie haben Angst, dass sie dort zum Söldnerdienst gezwungen oder umgebracht werden. Nach dem Ausländerrecht kann Abel theoretisch in zwei Jahren, wenn er 16 ist, nach Angola abgeschoben werden. Osvaldo bleibt noch eine Verschnaufpause von vier Jahren. Bis dahin hat er sich noch besser in das Leben hier eingewöhnt, vielleicht wieder ein wenig mehr Sicherheit gewonnen, vielleicht geht er dann sogar auf ein Gymnasium. Die Zukunft? Darüber kann er nichts sagen. Die Schule möchte er machen und noch besser im Fußball werden. Kinder, die aus der Unsicherheit eines Krieges kommen, schmieden keine großen Zukunftspläne, denn sie wissen, dass bereits die nächste Minute ihr gesamtes Leben aus den Angeln heben kann.

Abel trainiert sich Muskeln über seinen Narben. Irgendwann möchte er wieder zurück nach Angola.

Osvaldo möchte in Deutschland die Schule beenden, vielleicht sogar versuchen, auf das Gymnasium zu gehen. Eine Ausbildung machen. Doch auch er will irgendwann wieder zurück nach Angola, wenn ihm dort keine Gefahr mehr droht.

Sergej sitzt wegen des Diebstahls inzwischen in Untersuchungshaft und träumt von einem normalen Leben in Deutschland -

und Ali sucht noch immer, das Land, in dem es Kindern wie ihm gut geht ....

Regie und Buch: Matthias Zuber / polyeides medienkontor