SFB, Kirchplatz, 02.10.1999

"Im Schatten der
verbotenen Stadt"
Reportage über einen Pastor zwischen Ost und West

Der Krieg ist vorbei. Der erste, der zweite und der kalte. Und trotzdem liegen die Wunden noch offen; gerade hier. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, 50 Kilometer südlich vom Brandenburger Tor in Wünsdorf sind sie besonders offensichtlich. Hier hat sich die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre mit ihren Widersprüchen und Brüchen nicht nur in die Landschaft, sondern auch in die Seelen der Menschen eingeschrieben.

Zwischen allen Widersprüchen und Vorurteilen steht ein Mann, der versucht, die alten Wunden zu schließen. Jürgen Petereit ist seit fünfzehn Jahren Pastor in dem brandenburgischen Dorf, das Jahrzehnte im Schatten der gewaltigen Militärstadt lag. Von 1913 an fraß sich der militärische Komplex in die brandenburgischen Felder. Zuerst entwickelte hier die Reichswehr ihre Panzerwaffen, später hetzte die Leibstandarte Adolf Hitlers über die Wiesen. Nach dem Krieg nutzte die Rote Armee die gewaltigen Bunkeranlagen als Standort ihres Oberkommandos der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Ein Jahr vor dem Abzug der russischen Armee aus Wünsdorf am 9. September 1994, lebten in der hermetisch abgeriegelten Militärstadt 35.000 Menschen. Inzwischen heißt die ehemalige Garnison "Waldstadt" und ist wieder Teil von Wünsdorf. In die renovierten, idyllischen Wohnanlagen sind über 1.000 neue Mieter aus ganz Deutschland eingezogen.

Das Zusammenleben mit den etwa 3.000 "Alt-Wünsdorfern" ist nicht immer frei von Konflikten. Vorurteile über "Besser-Wessis" und "Dumpf-Ossis" belasten die Beziehungen der neuen Nachbarn. Zwischen den Fronten steht Jürgen Petereit und versucht dazu beizutragen, daß aus dem geteilten Dorf wieder ein gemeinsamer Ort wird. "Meine Aufgabe als Kirche sehe ich darin, eine Atmosphäre zu schaffen, die es allen leichter macht zusammenzuleben", sagt er. Mit Konzerten, Flohmärkten und Lesungen versucht er, seine Kirche als Gemeinschaft spendenden Platz zu etablieren, den Graben zwischen Ost und West zu überbrücken. "Zusammenwachsen geschieht nur auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen", sagt Petereit.

Die Reportage beobachtet Petereit bei seiner Arbeit und porträtiert das geteilte Dorf und seine Bewohner. Der Film zeigt auf der Folie von mehreren Jahrzehnten deutscher Historie exemplarisch die Problematik des Zusammenwachsens der beiden Teile Deutschlands und die Versuche eines Landpastors, diesen Prozeß zu fördern. In der Enge des Dorflebens treten Konflikte, Probleme und auch deren Lösungen klarer zu Tage als in den Metropolen. Durch die Garnison waren die politischen Veränderungen dieses Jahrhunderts in Wünsdorf immer existentiell mit dem Leben der Einwohner verbunden. Auch jetzt, da das Militärgelände zivil genutzt wird und sich Menschen aus den verschiedensten Teilen des Landes ansiedeln, wirkt der Ort wie ein Kaleidoskop: Deutsche Geschichte verdichtet sich zum Dorf-Alltag.

Regie: Matthias Zuber, Mitarbeit: Martin Fensch und Ernst Timur Diehn / polyeides medienkontor