Die Zeit, 11.03.1999

Bloody Circus im Netz

E-Mangas, japanische Internet-Comics aus einem deutschen Atelier revolutionieren die Welt der Bilder

Für die Japaner ist er ein Gajin, ein Fremder. Einer, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Und dennoch gilt Jürgen Seebeck Millionen Menschen im Land der aufgehenden Sonne als verehrungswürdiges Wesen. Denn Jürgen Seebeck ist ein "mangaka". Er zeichnet japanische Comics. Anders als zum Beispiel in Deutschland sind die Bildergeschichten in Japan wichtiger Teil der Alltagskultur. Amerikanische Journalisten haben sich den Scherz erlaubt und ausgerechnet, daß die Japaner mehr Papier zur Herstellung von Comics als von Toilettenrollen verbrauchen. Die Zeichner berühmter Manga-Serien genießen allerhöchsten Respekt; in Kawasaki im Süden Tokyos gibt es sogar einen buddhistischen Tempel, den Jorakuji-Schrein, der den Manga geweiht ist. Jürgen Seebeck, der für Kodansha arbeitet, einen der größten Comic-Verlage Japans, ist damit auf dem besten Weg in den japanischen Manga-Himmel.

Seit einiger Zeit arbeitet der 36jährige Hamburger an einem Projekt mit, das die Welt nicht nur der Manga, sondern wahrscheinlich aller Comics verändern wird: am E-Manga. Die E-Manga, die Electronic Manga, sind Comics im Internet. Im Prinzip ist der Comic im Computernetz nichts Neues. Aber im Unterschied zur statischen Präsentation herkömmlicher Internet-Comics sind die E-Manga animiert. Musik und Töne untermalen die Bilder. Noch gibt es die Bildergeschichten nur auf japanisch. Es ist geplant, sie achtsprachig in das Netz zu stellen. Ähnlich dem Schritt der Comic-Strips Mitte der 30er Jahre heraus aus den Zeitungen in eigene Magazine, wird auch der Wechsel der Bildergeschichten vom bedruckten Blatt ins digitale Universum des Internet seine Auswirkungen auf Form und Erzählstil haben. "Da entsteht etwas, das sich vom normalen Comic-Heft fundamental unterscheidet", sagt Seebeck in seinem Hamburger Atelier, wo er seine Geschichten für das japanische Internet-Magazin Morning-Online entwickelt.

Seebeck, der in Hamburg Japanologie studierte, ohne an Comics zu denken, erhielt 1989 eine Einladung des japanischen Kulturministeriums für ein einjähriges Stipendium an einer Tokyoter Universität. Zur gleichen Zeit suchte der deutsche Comic-Verlag Carlsen Übersetzer für japanische Bildergeschichten. Seebeck und seine Frau Junko Iwamoto-Seebeck bekamen den Job. Sie lehrten die Helden des Kult-Manga "Akira" ihre weißen Sprechblasen mit schwarzen, deutschen Wörtern zu füllen.

Wegen der Übersetzungsarbeit waren sie oft in den Redaktionsräumen von Kodansha, wo eines Tages ein Kodansha-Redakteur Seebecks Zeichentalent entdeckte. Er bot ihm an für Morning zu arbeiten, ein Manga-Magazin, das in Japan jede Woche fast eine Million Mal verkauft wird. Seither durfte der Gajin seine Zeichnungen neben den größten Stars der Branche präsentieren.

Historische Charaktere sind praktisch - der Leser kennt sie

Während eines Italienurlaubs inspirierte das Kolosseum in Rom den deutschen Mangaka und seinen japanischen Freund und Kollegen Takahashi Tsutomu zu einem Manga. Bloody Circus sollte die Geschichte heißen und ziemlich frei mit historischen Personen und Orten umgehen. "Auf irgendwelchen verschlungenen Wegen landete dann unser Konzept auf dem Schreibtisch eines anderen Redakteurs, der gerade das Internet-Magazin 'Morning-Online' konzipierte", sagt Seebeck.

Bloody Circus wandert zwischen den Kulturen, Zeiten, Legenden und historischen Personen. Seebeck findet es reizvoll, Geschichte neu zu entwerfen. Zudem hat das Konzept einen praktischen Vorteil: "Wenn man auf bekanntes historisches oder mythisches Personal zurückgreift, kann man sich eine Einführung sparen, die den Charakter der Person näher beschreibt", sagt der Autor - wegen der noch begrenzten Speicher- und Übertragungstechniken dürfen die Geschichten nicht allzu lange werden und auf den 20 bis 40 Seiten, die ein Strip umfaßt, ist es ja kaum möglich komplexe Figuren darzustellen.

Der Held des Manga, an dem Seebeck zur Zeit arbeitet, heißt Miamoto Musashi. Es ist eine historische Figur, ein berühmter Samurai, der im Japan des 17 Jahrhunderts lebte. In Seebecks Neufassung seiner Lebensgeschichte trifft er auf eine Vampirella. Es sei einfach spannender, meint der Autor, eine in sich schon interessante und widersprüchliche Figur in eine fiktive Situation zu stellen, in der ihr Charakter noch klarer zu Tage tritt, als eine bekannte Geschichte bloß nachzuerzählen.

Sein nächstes Projekt ist die Adaption des Romeo-und-Julia-Stoffes. Die Geschichte wird in Hamburg spielen. Die verfeindeten Familien sind chinesische Restaurant-Besitzer, nur der Schluß - da ist sich Jürgen Seebeck sicher - bedarf einer dringenden Revision: "Der ist bei Shakespeare einfach zu lau!"

Zwar hantiert der Hamburger Mangaka noch immer ganz traditionell mit Feder und Pinsel, doch das neue Medium verlangt von ihm eine andere Denkweise. Da die Sprechblasen meist nacheinander im Bild erscheinen, müssen alle Hintergründe durchgängig gezeichnet werden. Auch das Format der einzelnen Bilder muß sich dem Bildschirm anpassen. Welche Farben kommen am Monitor gut? Welche Animationen sind möglich? Fragen, die sich dem Zeichner bei Printmagazinen nicht stellen.

Bis jetzt gibt es die bunten Bildergeschichten im Netz kostenlos und in dieser Form soll es sie auch weiterhin kostenlos geben. Doch Kodansha arbeitet an erweiterten Versionen mit mehr Animationen, Geräuschen und Musik - die dann allerdings bezahlt werden müssen. Kodansha liefert das Vergnügen, die amerikanische Firma e-parcel die Technik. Die aufgerüsteten E-Manga sind über einen Link auf der Morning-Online Seite zu bekommen, der zu einem Internet-Shop mit dem seltsam unjapanischen Namen "Franken" führt. Dort kann man sich mit Hilfe des "e-Parcel"-Programms die Manga auf die eigene Festplatte laden.

"Wenn die Comic-Seite ein Spiegel des modernen Lebens ist, so ist sie ein Spiegel mit einer wunderbaren Speicherkapazität: Auf der Oberseite dieses Spiegels bleibt die Reflexion noch sichtbar, auch wenn das Original schon längst aus der Welt verschwunden ist", schrieben Kirk Varnedoe und Adam Gopnik in ihrem Buch "High & Low. Moderne Kunst und Trivialkultur". Sollte sich die Idee der "E-Manga" durchsetzen, so wird aus dem Comic ein Medium der "Gerade-Noch-Gegenwart". Dann existieren Comics nur noch temporär als ungreifbare Datenmengen in den virtuellen Kiosks des Netzes und auf den Festplatten der Rechner. Der technische Fortschritt wird jede Comic-Generation zusammen mit dem Speichermedium, mit dem es dann unheilvoll verbunden ist, auf den Industriemüll fegen. Die Reflexionen werden dann nur noch auf das mittelbare Jetzt verweisen.

Text: © Matthias Zuber / polyeides medienkontor

Foto: © Martin Fensch / polyeides medienkontor