Berliner Zeitung, 31.07.1996

Der neue Sinn des Häßlichen

Horror ist längst hoffähig geworden - eine Betrachtung zum zehnten Geburtstag des Fantasy Filmfests

Die Angst sei "die Grundempfindung jedes lebendigen Geschöpfs", schrieb der Philosoph Schelling. Sie sei der "Schrecken der objektiven Welt", der den Menschen überfalle, wenn er die rational-subjektiven Schranken seiner Welt aufhebe. Die Angst kriecht also aus einem archaischen Zweifel. Aus dem Zweifel, daß das rationale Bild, das wir uns von der Welt machen, falsch ist. Daß wir in einer wissenschaftlichen Illusion leben, hinter der sich etwas verbirgt, das besser im Heimlichen hätte bleiben sollen. Etwas, das uns durch die Risse unseres Weltbildes anlächelt: Das Unheimliche.

Ein Ort, an dem die Angst und das Unheimliche traditionell mit dem Menschen Fangen spielen, ist der dunkle Bauch des Kinos. Und genau dort feiert das schaurige Duo zum zehnten Mal eine große Party. Zum zehnten Mal öffnet das Fantasy Filmfest seine Pforten. Zuerst in München, dann in Berlin, Frankfurt am Main, Stuttgart, Köln und Hamburg werden sich Tausende in die Kinosäle drängen, um sich dort in der Dunkelheit die kalten Angstschauer lustvoll durch die Seelen jagen zu lassen.

Mit einigen Kästen Bier und einer Menge Trash fing vor neun Jahren alles an. Geboren wurde das Festival, das inzwischen in Europa zu einem der wichtigsten seines Genres zählt, 1987 in Hamburg. Rainer Stefan, damals Filmhändler, entstaubte die alten Fantasy-Klassiker aus den 50er und 60er Jahren, die in seinem Keller lagerten, und Hans-Peter Jansen und Michael Eckert steuerten das Alabama Kino bei. In der Bierkasse waren 350 Mark - das reichte, um einige Journalisten auf das Festival aufmerksam zu machen. Inzwischen gibt es keine Bierkasse mehr. Das Festival ist ein florierendes Unternehmen und die Filme stammen nicht mehr aus den 60ern, sondern sind brandaktuell. Doch nicht nur das Festival hat sich gemausert, sondern auch das Genre selbst. Die Filme sind teuerer geworden und der blutige Diletanttismus à la "Texas Chainsaw Massacre" ist meistens einer glatteren, wenn auch oft nicht unblutigeren, Dramaturgie gewichen.

Als Anfang der 60er Jahre einige Filmemacher anfingen unappetitliche Gewaltexzesse wie "Blood Feast" (Herschell Gordon Lewis, 1963) - der Titel ist Programm - zu inszenieren, geschah dies weniger unter der Beachtung der Feuilletonisten, als vielmehr unter der der Staatsanwälte. Die Welle erreichte 1968 ihren ersten Höhepunkt mit George A. Romeros legendären Zombiefilm "Night of the Living Dead", in dem ein Haufen Untoter Jagd auf frisches, lebendiges Menschenfleisch macht. Obwohl der Film in Schwarz-Weiß gedreht wurde, war die Ekelkomponente enorm. Für die Staatsanwälte in den meisten Ländern war der Film häßlich, krank, pervers und gewaltverherrlichend und wurde deswegen indiziert. Für Romero war er eine Parabel auf den Kapitalismus. "Das Häßliche", schrieb schon Nietzsche, "ist die Betrachtungsform der Dinge unter dem Willen, einen Sinn, einen neuen Sinn in das Sinnlosgewordene zu legen: Die angehäufte Kraft, welche den Schaffenden zwingt, das Bisherige als unhaltbar, mißraten, verneinungswürdig, als häßlich zu fühlen."

Diese Filmemacher lehnten sich mit ihren schleimig, blutigen Filmen nicht nur gegen den "guten Geschmack" auf, sondern setzten Gegenbilder zu einer heilen Konsenskultur. Zu einer Kultur, die im Laufe eines Zivilisationsprozesses den menschlichen Körper disziplinierte und die Selbstkontrolle zum Signum der Moderne machte. Der Soziologe Nobert Elias belegt diese Entwicklung in seinem Buch "Über den Prozeß der Zivilisation" anhand der Geschichte der Tischmanieren. Regisseure wie Romero, Stuart Gordon ("Re-Animator, 1985), Dario Argento ("Tenebre", 1982) und Roy Frumkes ("Street Trash", 1985 - 87) legen in ihren Filmen wenig Wert auf den fehlerfreien Umgang mit Messer und Gabel, sie benutzen Besteck in erster Linie dazu, ihre Figuren auf filmblutige Weise fantasievoll ins Jenseits zu befördern. Sie setzen gegen den funktionalen, rationalisierten Körper den zerstückelten, zerplatzenden, außer Kontrolle geratenen.

Außer Kontrolle geraten in zweierlei Hinsicht: Zum einen der Körper, der die Vernunft abgeworfen hat und sich mordend und verstümmelnd durch seine Umwelt bewegt, wie der des "Maniac" in William Lustigs gleichnamigen Film von 1980. Und zum anderen der Körper des Opfers, der sich durch Axthiebe ("Tenebre"), Messerstiche oder sonstige Gewalteinwirkung öffnet, zerfließt ("Street Trash"), unkontrollierbar wird. So gesellt sich zu der Lust am Unheimlichen die bewußte oder unterbewußte Freude über die Niederlage der allesbeherrschenden Vernunft. Fantasyfilme, zu denen neben Thriller, Science-Fiction vorallem auch Horrorfilme gehören, sind Spielwiesen des Irrationalen. So waren die Surrealisten um Andrè Breton in ihrer Abkehr von der durchrationalisierten, bürgerlichen Welt hin zum kollektiv Unterbewußten mit die ersten, die diese ungeheuere Sprengkraft des Irrationalen in den Groschenheften und billigen Kinoserien ihrer Zeit, wie "Vampire" von Louis Feuillade (1915), auslebten.

Die Surrealisten erhoben nicht nur das Amoralische und Grauenvolle durch ihre Kunst von der "U-Kultur" in die "E-Kultur", sondern auch das Populäre, die "Pulp Fictions" der Zwanziger als das kollektiv Unterbewußte. Nach den Surrealisten kamen die Soziologen, Film- und Literaturwissenschaftler und überführten die schaurig billigen Geschichten in unzähligen Arbeiten in ihre eigenen Diskurse, in ihre eigene Sprache. Es hat gedauert. Doch die Beharrlichkeit hat sich am Ende ausgezahlt. Das "théâtre de la curautè", das Theater der Grausamkeiten, wie es Antonin Artaud und Roger Vitrac vorschwebte, ein Theater, das durch die drastische Wahl seiner Mittel etwas in der Welt bewegt, und wie es vielen Horror-Regisseuren vielleicht vorschwebte, ist inzwischen von der herrschenden Kultur absorbiert worden.

Inzwischen sind Horror- und Splatterfilme dank Soziologen, Filmtheoretikern und Germanisten nicht nur salonfähig geworden, sondern Teil der Hochkultur. Helmut Krauser ("Thanatos") widmete dem Helden des Kultfilms "Texas Chainsaw Massacre" Leatherface ein Theaterstück. Auch sonst durchzieht das Werk des Schriftstellers ein Hauch B-Picture. Ein Genre, das er nach eigener Aussage, intensiv im Münchner Werkstatt-Kino studiert hat. Der kanadische Fotograf Jeff Wall ("Picknick der Vampire") bedient sich aus dem Fundus des Horrorfilms genauso selbstverständlich wie Bret Easton Ellis in seinem Buch "American Psycho". Im Zuge von Vernunftkritik und dem wachsenden Interesse für "popular culture" sind die abgründigen Streifen hip geworden. Horrorfilmregisseure wie David Cronenberg und Dario Argento drehen sogar Werbefilme. Argento filmte einen halbstündigen Werbespot für den Modekonzern Trussardi, in dem er Modells "ermordet" und in Plastikfolie einschweißen läßt.

Das Abscheuliche, Ekelhafte, Eitrige, Blutige wurde dem Horror-, beziehungsweise dem Splatterfilm entrissen und hat Einzug als Eyecatcher in andere Genres gehalten. Durch diese Umwertung hat der Splatterfilm sein einzigstes Stilmittel verloren und ist verurteilt nicht mehr im Gegensatz zu den Bildern der Konsumwelt zu stehen, sondern selbst Teil zu sein. Dadurch wurde er verdammt sich selbst zu persiflieren. Die Absorptionsbemühungen der "Hochkultur", des Gesellschaftlichen haben sich als wesentlich schlimmere Feinde entpuppt als das Heer zensurfreudiger Staatsanwälte. Es ist dem Splatterfilm nur kurze Zeit gelungen dem sinnlosgewordenen einen neuen sinn zu geben. Was ihm bleibt, ist sich in einem letzten kanibalistischen Akt selbst zu verzehren. Doch das hat er bereits in dem indizierten Film "Maneater", in dem sich der Menschenfresser am Ende des Films selbst frißt.

Text: © Matthias Zuber / polyeides medienkontor