Allegra, Februar 1999

Cinema Paradiso

Oder kann man sich einen schöneren Ort als Havanna vorstellen, um die Kunst des Filmens zu lernen? Palmen vorm Schulgebäude, Cuba libre am Pool, und ab und zu schaut einer der Coen-Brüder vorbei.

Christian steigt aus dem Swimmingpool. Für einen, der seit über einem Jahr auf Kuba lebt, ist der 25jährige erstaunlich blaß. Die blauen Augen leuchten klug und aus den langen blonden Haaren tropft Chlorwasser auf die schmalen Schultern. Es ist ziemlich heiß. Achtundzwanzig Grad hat der Wachmann gesagt, während er die Reisepässe im Schatten seines gläsernen Pförtnerhäuschens kontrollierte. Neben dem ausladenden Betondach auf einem Mast brennt orange, blau, gelb das Logo der "Escuela Internacional de Cine y Televisión" (EICTV), der kubanischen Filmhochschule. Das Architekturensemble hinter dem Maschendraht, der das 4.000 Quadratmeter große Gelände einzäunt, hat den Charme einer Tankstelle. Eine lange Palmenallee führt zu zwei vierstöckigen Betongebäuden. Die beiden Häuser sind durch einen kleinen Zwischenbau verbunden, in dem der Speisesaal und die Telefonkabinen untergebracht sind. Im ersten Haus sind Unterrichtsräume, ein Kino mit 120 Plätzen und zwei Tonstudios, im zweiten, die Zimmer der etwa 80 Studenten, die im Moment in zwei verschiedenen Jahrgängen unterrichtet werden, und im ersten Stock die Schnittstudios.

"Die EICTV gehört eigentlich gar nicht zu Kuba", sagt Christian. "Sie ist ein wenig wie eine Raumstation auf einem fremden, unterentwickelten Planeten." Er greift zu einem grünen Handtuch, das über einer der weißen Liegen hängt, und trocknet sich die Haare. Christian studiert seit einem Jahr Filmschnitt an der EICTV. Die meiste Zeit sitzt er im abgedunkelten Schneideraum oder im Kino. Die karibische Sonne sieht er nur selten, zum Beispiel, wenn er im schuleigenen Pool schwimmen geht. Christian ist der erste Student mit einem deutschem Paß an der EICTV. Noch vor zwei Jahren wäre das undenkbar gewesen. Denn die Filmhochschule, die auch "Escuela de Tres Mundos" ("die Schule der drei Welten") heißt, war ursprünglich für den Filmnachwuchs aus Lateinamerika, Asien und Afrika gedacht.

Sie verstand sich als Bollwerk gegen das imperiale Medienrauschen der reichen Industrienationen. Seitdem ist viel passiert. Der einstige Hauptgeldgeber der EICTV, die Stiftung für den neuen lateinamerikanischen Film, ein von verschiedenen lateinamerikanischen Staaten und Organisationen getragener Zusammenschluß von Filmschaffenden, hat sich aus der Finanzierung teilweise ausgeklinkt. Die Escuela de Tres Mundos mußte sich selbst nach neuen Geldquellen umsehen. Filmmaterial und Equipment sind teuer und meist nur gegen harte Dollar aus dem Ausland zu bekommen. Deshalb veranstaltet die EICTV Seminare und Workshops, an denen auch Menschen der nördlichen Halbkugel teilnehmen können – gegen die dringend benötigten Devisen.

Christian geht auf sein Zimmer, um sich umzuziehen. "Für Kuba ist das hier der totale Luxus", sagt er. In dem etwa 15 Quadratmeter großen Raum stehen ein Bett, ein Stuhl, ein Schreibtisch und ein großer Ventilator. Außerdem hat jeder der etwa hundert Studentenzimmer ein eigenes Bad. "Luxus", grinst Christian und zeigt in den engen fensterlosen Raum mit Waschbecken, Toilette und Dusche. "Meistens gibt es sogar Warmwasser." Auf dem Schreibtisch liegt ein brauner Umschlag mit Fotos. Eine blonde Frau lacht aus dem Grün eines Parks, dahinter ein Mann mit dunklen Haaren. "Das sind meine Eltern", sagt Christian. Seine Mutter ist Deutsche, sein Vater Spanier. Geboren wurde er in Barcelona, die ersten acht Jahre seines Lebens verbrachte er in Köln. Schule und Abitur in Barcelona, zwei Jahre Tourismusstudium in München, dann wieder zurück nach Spanien. Er lernt Bildhauerei an der Kunsthochschule in der katalanischen Hauptstadt und entdeckt seine Leidenschaft für den Film. Neben dem Bildhaueratelier liegt das Studio der Videoklasse. Dort ist er fast öfter als bei seinen Steinen. Er beginnt Videoschnitt zu studieren und hört von der Möglichkeit eines zweijährigen Schnittstudiums auf Kuba.

"Kuba als eines der letzten kommunistischen Länder und dann noch Mitten in der Karibik gelegen - das hat mich gereizt", sagt er. Die Bilder von Palmen, fröhlichen Menschen, Sonne und Meer, all das habe sicher bei seiner Entscheidung eine Rolle gespielt. Und dann natürlich auch der kubanische Film, der so phantasievoll, kritisch und wunderbar sein kann, wie in Daniel Díaz Torres´ Werken. Sein "Tropicanita" ("Kleines Tropicana" 1998) lief mit großem Erfolg auf dem letzten Filmfest in München. Torres, der außerdem Direktor der EICTV ist, bewegt sich in Kuba seit Jahren zwischen Zensur und Erfolg. Seine bitter-komische Parabel "Alicia en el Pueblo de Maravillas" ("Alice im Wunderdorf" 1990) über die ideologische Tristesse auf Kuba wurde dort sogar verboten.

Bereits in der ersten Woche auf "der Perle der Antillen" zersplitterten Christians Klischees von der Insel in tausend widersprüchliche Realitätspixel. "Die Menschen sind sehr, sehr arm, und von der karibischen Fröhlichkeit ist auch nichts zu spüren." Christian denkt einen Moment nach. "Nein, das stimmt nicht. Manchmal explodiert die Niedergeschlagenheit in ganz verrückte, ausgelassene Feste."

Auf Kuba ist jeder Tag ein Abenteuer. Für ein Telefongespräch von der EICTV in San Antonio de los Banos in das 35 Kilometer entfernte Havanna muß man manchmal eine Stunde auf eine freie Leitung warten. Die Busfahrt in die Hauptstadt kann zum Tagesausflug werden, wenn den alten klapprigen Fahrzeugen das Benzin ausgeht oder der Busfahrer anhält, um seinen Rausch auszuschlafen. Aber immerhin noch besser als der Zug. Die reguläre Fahrzeit des dampfenden und schwer schnaubenden Vehikels beträgt zweieinhalb Stunden. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von vierzehn Stundenkilometern - und das auch nur, wenn es zu keinen Komplikationen kommt. Der Zug ist der Star in einem der Filme, die Christian zusammen mit Studenten aus seiner Klasse gedreht hat.

Gestern hat Sean MacAlister, ein Regisseur aus England und zur Zeit Dozent an der EICTV, Christian eine digitale Videokamera in die Hand gedrückt. Sein Auftrag: innerhalb von 24 Stunden eine Dokumentation abzudrehen. Jetzt sitzt Christian im Dunkel des Schneideraums und versucht die vielen Bilder zu ordnen, die er zuvor gedreht hat. "Film, das ist in erster Linie Schnitt", sagt er. "Es ist wie ein Puzzle. Du sitzt hier mit den Bildern, Bewegungen und Tönen und setzt aus all diesen Fragmenten etwas Ganzes zusammen." Das "Ganze" soll einmal die Geschichte einer 15jährigen Mambo-Tänzerin und ihrer Familie werden.

In den letzten Semesterferien hatte Christian einen Filmkoller. Er konnte die Schule, das Kino, den Schneideraum nicht mehr sehen. Zusammen mit drei Kommilitonen mietete er ein Appartement in der Altstadt von Havanna. "Es war eine großartige Zeit", sagt er. "Auch, wenn mich hier oft die kubanische Realität eingeholt hat." Die Prostitution am Malecon, der einstmals schicken Uferpromenade Havannas und überall die erdrückende Armut. "Viele dieser sonst so stolzen Menschen machen für ein paar Dollars wirklich alles." Trotzdem würde er sich wieder für die Ausbildung bewerben. "Ich habe, glaube ich, noch nie so intensiv gelebt wie hier", sagt Christian. "Mit allen Höhen und Tiefen."

Und die Schule sei ja auch klasse. Berühmte Dozenten aus aller Welt kommen nach San Antonio de los banos. Robert Redford war hier und die Coen-Brüder ("Big Lebowski" 1998) haben sich für dieses Semester angemeldet. Im Juli 1999 wird Christian seinen Abschlußfilm schneiden. In dem Gremium, das dann die 13 Minuten bewertet, wird auch Francis Ford Coppola sitzen. Die Fahrkarte nach Hollywood? Das amerikanische Filmmekka wäre der letzte Ort, an den es Christian nach seinen Erfahrungen in Kuba zöge. Die Produkte aus der Traumfabrik seien meist zu glatt, einfach zu langweilig. Christian will weiter Dokumentarfilme machen. Er hat bereits zwei Projekte im Auge, die er nach dem Studium angehen will. "Der eine Film wird in Südspanien und der andere in Südamerika gedreht werden - wenn ich denn einen Produzenten finde, der mir das Projekt finanziert", sagt er.

Draußen vor dem Schneideraum wartet Marie-Melanie. Sie kommt aus Paris und ist im selben Jahrgang wie Christian. Letztes Jahr haben sie zusammen zwei Filme gemacht. Marie-Melanie studiert Kamera und hätte den Schneideraum eigentlich schon seit einer halben Stunde verlassen müssen. "Was ist schon Zeit, auf einer Insel, die irgendwann in den Fünfzigern stehengeblieben ist", sagt Christian beim Hinausgehen, lächelt das bezauberndste Spitzbubenlächeln Kubas und verabredet sich mit Marie-Melanie für das Wochenende in einer der Bars in Havanna.

Text: © Matthias Zuber und Martin Fensch / polyeides medienkontor

Foto: © Christiane von Enzberg