Südwestrundfunk 2 , Literatur und Feature
QUÄLT DIE SUHRKAMPS
Junge, unabhängige Verlage im Aufwind

 



Autoren: Antje Lang-Lendorff und Matthias Zuber
Redakteur: Dr. Walter Filz
Redaktion: SWR2 - Literatur und Feature
Länge: ca. 60’
Sendung: 10.01.2006
Fassung: 2 /11.12.2005

MANUSKRIPT:

Sprecher 01: Schließ noch einmal die Augen. Öffne die Ohren. Was hörst du. Du hörst den Beat, das Brett, wie es aus einem unten auf der Blumenstraße vorbei fahrenden Auto kommt, wo es hart und breit gesägt wird, im Soundsystem. Der Beat macht dich wach. Du hast geträumt, und jetzt öffnest du die Augen. Vor dir auf dem Tisch steht dein kleiner Computer, er zirpt dieses hohe Computerzirpen, während das Soundbrett die Straße entlangschwebt und leiser wird, fast nicht mehr zu hören ist. Nimm eine Tablette, und dein Kopf wird rein. Und du denkst: Ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter meinem Dach, aber sprich nur ein Wort, und meine Seele wird gesund. Du schluckst ES hinunter.

Sprecher 01: Wie ein Schleudersitz kommt dir die Erinnerung vor. Sie katapultiert dich aus dem Jetzt, Du kannst dich nicht dagegen wehren. Dinge wie Stuhl, Schreibtisch, Laptop, die gerade noch deine waren, werden in die Welt hinausgeschleudert und verglühen. Übrig bleiben alte Geschichten, sonst nichts. Rudern wir nicht die ganze Lebenszeit durch die dicke Brühe der Erinnerung, werden in sechzig oder siebzig Jahren immer schwerer davon? Irgendwann sind wir vollgesogen, und am Ende versinken wir komplett darin. Der Tod ist wahrscheinlich nichts als die totale Erinnerung. Der körperliche Stillstand als geistige Hochzeit. Was natürlich ein Blödsinn ist, ein fast schon religiöser Unsinn; andererseits ein richtig schöner religiöser und tröstlicher Gedanke, und darum nicht schlecht. Trotzdem, sage ich mir, unsere Schwimmversuche sind hilflos, genau wie dieser Versuch, etwas aufschreiben und festhalten zu wollen. Wenn aber der Schreiber über mehrere Wochen überhaupt keine Aufzeichnungen macht, dreht es ihn erst recht hinab in den Strudel. In die Finsternis der Vergangenheit. Und wehe, er will zu schnell wieder auftauchen.

Sprecherin 02: Ein erfolgreiches Debüt. Der Roman „Memomat“ beschert Franz Xaver Karl, kurz FX Karl, im Herbst 2002 freundliche bis euphorische Kritiken. Nicht nur für den Autor, auch für den Blumenbar Verlag, ist der Erfolg wichtig. Er bestätigt die beiden jungen Verleger Wolfgang Farkas und Lars Birken-Bertsch: ihr Instinkt hat sie nicht getäuscht. Denn „Memomat“ ist ihr Debut. Das erste von ihnen verlegte Buch.
FX Karl wohnt zu dieser Zeit tatsächlich in der Blumenstraße in München. Von seinen Fenstern aus schaut man direkt auf die neu gebaute Halle am Viktualienmarkt. Zwei Stockwerke darunter haben Wolfgang Farkas und Lars Birken-Bertsch ihre WG. In ihrem Wohnzimmer veranstalten sie Lesungen mit feuchtfröhlichen Partys hinterher. Eine Mischung aus privatem Literatursalon und Club, die legendäre Blumenbar.

Sprecher 01: Der Memomat hat ausgeschleudert.
Öffne die Augen, sage ich mir, und schau klar in die Welt. Ich bin erschöpft, aber auch erleichtert. Und ich bin ein wenig verwirrt. Ich sehe auf vom silberblauen Display meines Computers, ich höre die Stimmen der Nachbarn, die durch die geöffneten Fenster zu mir dringen, Stimmen aus einer Welt, die wirklich um mich herum ist, warme Stimmen aus dem Bauch der Stadt, die mich umgibt.

Wolfgang Farkas (blumenbar): „Die literarischen Titel bilden letztlich die Zeit aus der Perspektive unserer Generation ab. Insofern könnte man vorsichtig [...] formulieren, dass es der Verlag unserer Generation ist. Beziehungsweise der Verlag, der die Themen und die Perspektiven und die Arten auch mit Sprache umzugehen unserer Generation einfängt und abbildet.“ “[O-Ton WOLFI generation]

Sprecherin 02: Drei Jahre später. Wolfgang Farkas sitzt in seinem Büro in der Schwanthaler Straße mitten in München, zwei Stockwerke über einem Aldi-Markt. Draußen: die vierspurige Straße und gegenüber auf der anderen Seite das Deutsche Theater. Drinnen: das Panorama eines Mittelgebirges – aus Stapeln von Briefen, Notizen, Verlagsprospekten und Büchern. Die Gebirgskette zieht sich hoch bis auf den alten, dunkelbraunen Schreibtisch, wo ein türkisfarbener iMac zwischen den Papiermassen steht. Über den Gipfeln hängt der Geruch von kaltem Nikotin. – Wolfgang Farkas sitzt auf einem Stuhl, der aussieht als wäre er der traurige Rest eines großbürgerlichen Erbes. Hier arbeitet er mit seinem Kollegen an den Büchern, von denen er meint, dass sie der Welt nicht vorenthalten werden sollten.

Wolfgang Farkas: „Es kann eine sehr klassisch und literarisch orientierte Form sein, wie eine Novelle, die auf 120 Seiten eine Freundschaftsgeschichte von Theologiestudenten erzählt. Das kann eher experimentell beziehungsweise unkonventionell passieren wie in Form eines Romans, der von einer Pornoproduktionsgesellschaft handelt. Und der irgendwo zwischen Satire und Slapstick und Comic auch angesiedelt ist. Die Formen sind vielfältig, doch es ist bei allen Büchern ein philosophischer Grundsound, der mehr oder weniger stark zu hören ist.“

Sprecherin 02: In den drei Jahren seines Bestehens hat der kleine Verlag für viel Wirbel in der Branche gesorgt. 2003 erhalten Wolfgang Farkas und Lars Birken-Bertsch den BuchmarktAward in Gold für ihren Verlagsauftritt. Die Bücher der Blumenbar werden regelmäßig in den Feuilletons der großen Blätter und Magazine besprochen. Meist positiv. Manchmal sogar hymnisch wie in der FAZ im Dezember 2004, wo über die deutschsprachige Verlagszene zu lesen steht:

Sprecherin 02: Die blumenbar ist kein Einzelfall. In den letzten Jahren hat sich in Deutschland eine ganz neue, junge und unabhängige Verlagsszene entwickelt. Tisch7 – zum Beispiel - in Köln. SuKuLTuR, Verbrecher Verlag und Tropen in Berlin. orange press in Freiburg, Yedermann, Liebeskind und blumenbar in München. Und kookbooks im hessischen Idstein. Wie blumenbar wollen sie Literatur herausbringen, die bei den großen Verlagen nicht zu finden ist. Neue Autoren. Neue Inhalte. Zwischen Buchdeckeln in neuem Design. Unter dem Motto: „Time to take charge“ – Zeit das Kommando zu übernehmen – haben sich im Mai 2005 15 der jungen Unabhängigen in Berlin getroffen. In der Literaturwerkstatt.

Oliver Brauer (Yedermann): „Ich hatte sehr viel Konkurrenz erwartet. Ganz ehrlich. Von dem Treffen. Ich habe sie immer den anderen unterstellt. [...] Wir sind ja alle eigentlich so Individualisten und wir machen eigentlich immer die schöneren Bücher als die anderen und es macht wahnsinnig Spaß, sich die Vorschau von einem anderen anzugucken und sich zu sagen; unsere sind schöner. Deshalb dachte ich: werden wir wirklich zusammenarbeiten können? Und war etwas skeptisch.“ [O-Ton BRAUER konkurrenz]

Sprecherin 02: Oliver Brauer verlegt zusammen mit Sebastian Myrus seit fünf Jahren Belletristik im Münchner Verlag Yedermann – Yedermann mit Y statt J. Es wird viel debattiert auf dem Treffen in der Berliner Literaturwerkstatt. Ein wichtiges Thema ist, wie sich die jungen, unabhängigen Verlage gemeinsam gegen die Großen der Branche behaupten können. Jörg Sundermeier vom Berliner Verbrecher Verlag:

Jörg Sundermeier (Verbrecher Verlag): „Das wirklich Tolle daran ist, dass diese Zusammenarbeit tatsächlich funktioniert, also, die Verlage tauschen untereinander etwas aus. [...] diese Vereinzelung hört auf.“

Oliver Brauer (Yedermann): „Und das Treffen ging in der Literaturwerkstatt Berlin los, förderte ein unglaubliches freundliches, kollegiales Verhältnis zu Tage.“ [O-Ton BRAUER freundschaft]

Daniela Seel (kookbooks): „An den Punkten, wo´s im Augenblick Verdrängung gibt innerhalb des Marktes, sich zusammen zu tun, um dann gemeinsam auch stärker auftreten zu können, um gemeinsam gegenüber den Buchhandlungen oder und auch der Presse das vermitteln zu können, wofür man steht.“

Frank Niederländer (Tisch7): „Es gibt verschiedene Überlegungen, unter anderem zum Beispiel eine gemeinsame Kundenzeitschrift.“

Martin Baltes (orange press): „Vereinbart haben wir, dass wir mittelfristig gemeinsame Vertreter haben möchten, eine Auslieferung. Dass wir den ganzen Kontakt mit dem Buchhandel aus einer Hand liefern können. Das ist deshalb so notwendig, weil es auf Handelsseite zunehmend zu Konzentrationen kommt [...]. Die Independents müssen irgendwas bauen, um dem Handel gegenüber als Großer aufzutreten.“

Lars Birken-Bertsch (blumenbar):  „Es [...] gab in den letzten Jahren einige Neugründungen im Verlagsbereich, kleine junge unabhängige Verlage, die sich dahingehend ergänzen, dass sie versuchen, [...] professionell zu arbeiten, einen anderen Ansatz haben wie vielleicht Verlagsgründungen aus den siebziger Jahren oder auch Anfang der achtziger Jahre, denen es stark darum geht durch eine Profilierung, die nicht nur inhaltlicher Art ist, sondern auch schon in der Gestaltung, am Markt durchzukommen und auch das Ziel haben, Erfolg zu haben, eine Stimme zu sein. Unter dem Schlagwort der intellektuellen Trendverlage wurde das dann in den Medien rezipiert.“ [O-Ton LARS itv]

Sprecherin 02: Intellektuelle Trendverlage. Mit diesem Begriff sind nicht alle glücklich. Jörg Sundermeier vom Berliner Verbrecherverlag:

Jörg Sundermeier: „Das Intellektuelle, Fragen der Intelligenz, Fragen der Theorie, unter modischen Aspekten zu betrachten, das ist ja eigentlich was Verderbtes. Letztendlich kann man es so nicht nennen. Das ist vielleicht ein schönes, schickes Label und das kommt schnell - aber auch derjenige oder diejenige, der/die das geschrieben hat, wird es hoffentlich nicht so ernst meinen.“

Sprecherin 02: Doch das Schlagwort ist hilfreich. Denn um wahrgenommen zu werden, benötigen die Unabhängigen eine gemeinsame Stimme, ein gemeinsames Label. Eine Schublade, in der man sie sicher ablegen kann. Einen Begriff, der sie erkennbar macht, unterscheidbar von anderen Verlagen und Verlagszusammenschlüssen. Und für den Leser scheint es allemal schmeichelhaft, wenn er nicht nur auf der Höhe der Zeit ist, sondern auch noch im „intellektuellen Trend“ sein darf.

Martin Baltes (orange press): „Intellektuelle Trendverlage, so ein bisschen kann ich dann schon sehen, dass man das versucht zu labeln und diesem Label so ein bisschen einen ironischen Unterton zu verleihen.“

Sprecherin 02: Martin Baltes` Verlag heißt orange press, hat seinen Sitz in Freiburg und ist spezialisiert auf die Vermittlung von Theorieansätzen des 20. und 21. Jahrhunderts. Auch Baltes fühlt sich mit dem Label nicht so ganz wohl. Wie Daniela Seel von kookbooks:

Daniela Seel (kookbooks): „Wir finden das natürlich gut, wenn das uns hilft, bekannter zu werden und wenn, ja wenn das das, was wir wollen, verstärkt. Aber jedenfalls für mich kann ich sagen, dass ich eigentlich diese Modeschiene überhaupt nicht attraktiv finde und dass das auch nicht unser Programm widerspiegelt.“

Sprecherin 02: In jedem Fall jedoch beschert die Veranstaltung im Berliner Literaturhaus den „Independents“, wie sich einige aus der Gruppe der „intellektuellen Trendverlage“ lieber nennen, eine gehörige, mediale Aufmerksamkeit. In der Folge sind die Independents in den Feuilletons aller deutschen Zeitungen ein Thema.

Sprecherin 02: Auf der letzten Buchmesse in Frankfurt sind die „intellektuellen Trendverlage“ auch als Gruppe präsent. Nicht nur, dass sie ihre Bücher dicht beieinander in einer Halle präsentieren, sie veranstalten auch gemeinsam eine Party.

Martin Baltes (orange press): „Die Party ist für uns einfach ein sehr starkes Mittel auf unsere Aktivitäten irgendwie hinzuweisen, also denk ich. Die hat natürlich auch den tollen Effekt, dass wir auch als Gruppe ernster genommen werden. Die Party ist auch ein ...... Ach, stimmt auch nicht, was ich sage. Ist Quatsch. Die Party ist einfach ne Party, wir wollen einfach feiern und aus.“

Sprecherin 02: Eine alte, leere Fabrikhalle. Ein Lagerfeuer vor dem Eingang leuchtet den Gästen den Weg. Drinnen ist es brechend voll. Wolfgang Farkas von der blumenbar steht auf der DJ-Kanzel über dem Gedränge, bewegt sich zum Takt der Musik und legt Platten auf. Unten versuchen sich Verleger, Autoren und ihre Geschäftspartner schreiend durch den Klangteppich zu verständigen. Doch die meisten trinken das Bier aus der Flasche und tanzen.

Sprecherin 02: Die jungen Verleger setzen auf den Charme des Provisoriums. Eine Garderobe gibt es nicht. Geschweige denn Toiletten. Zwei Dixie-Klos stehen auf der Rückseite der Halle. Bei den Empfängen der Rowohlts, Fischers, Suhrkamps geht es anders zu.

Daniela Seel (kookbooks): „Frankfurt ist häufig ja doch etwas steif und gesetzt [...] und da kann so ne Party natürlich nen Beitrag leisten, dass es nicht so verkrampft und nur businesslike zugeht. Möglicherweise hat es auch was mit uns schon zu tun, dass die Stimmung irgendwie entkrampfter ist und dass da wieder so ein bestimmter Aufbruch da ist.“

Sprecherin 02: Daniela Seel von kookbooks. Martin Baltes von orange press weiß, was die jungen, unabhängigen Verleger auf ihrem Fest wollen:

Martin Baltes (orange press): „Kein Gequassel, keine Zwangspädagogisierung am Anfang, bevor man sich dann amüsieren darf, kein CEO, der noch irgendwie ein paar warme Worte für einen übrig hat, bevor dann das Buffet eröffnet wird und der ganze Kram. Einfach laute Musik und Bier.“

Sprecherin 02: Der Buchmarkt ist in den letzten Jahren härter geworden. Die Branche machte im Jahr 2004 ein Plus von gerade einmal 0,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das Wachstum stagniert. Gleichzeitig kommt es sowohl bei den Buchhandlungen wie auch bei den Verlagen zu Konzentrationsprozessen. Kleine Buchhandlungen halten der Konkurrenz von „Kultursupermärkten“ wie Hugendubel, Thalia oder Dussmann nicht stand und müssen schließen. Ehemals unabhängige Verlage werden an große Häuser wie Springer, Holtzbrink oder Random House verkauft. Vor zwei Jahren sorgte Random House für Schlagzeilen. Der Riese unter den Verlagskonglomeraten schluckte den Heyne Verlag und wurde damit zum achtgrößten Verlagskonzern der Republik.

Thomas Sparr (suhrkamp): „Die Konzentration unter einem Dach bedeutet natürlich immer das Verschwinden der Individualität eines Programms oder zumindest die Bedrohung. Ich will gerne glauben, dass Konzerne wie Random House Marken pflegen. Doch das muss sich von Marke zu Marke erweisen. Und es ist oft erwiesen, dass es eben nicht gelungen ist.“ [O-Ton SPARR konzentration]

Sprecherin 02: Thomas Sparr ist Leiter der Presseabteilung des Suhrkamp Verlages. Jenes Verlages, der eine eigene, geistige Kultur in der Bundesrepublik nach dem Krieg etablierte: eben die „Suhrkamp-Kultur“. Der Verlag von Hermann Hesse, Bertolt Brecht, Theodor Adorno, Samuel Beckett galt lange als Hort der klassischen Moderne.

Sprecher 03: „Der Suhrkamp Verlag folgt einer doppelten Publikationslinie: deutschsprachige und internationale Literatur des 20. Jahrhunderts und Geisteswissenschaften, die theoretisch und ästhetisch eine conditio humana repräsentieren.“

Sprecherin 02: ... steht programmatisch auf der Homepage des Verlages. Wohlgemerkt: „des 20. Jahrhunderts“. Im 21. scheint der Verlag auch 2006 noch nicht angekommen zu sein. Der Lapsus auf der Homepage ist bezeichnend für die Probleme des Suhrkamp Verlages. In der öffentlichen Wahrnehmung zählt der Frankfurter Verlag zwar immer noch zu den renommiertesten in Deutschland. Doch wirklich Neues traut man ihm kaum mehr zu. Auch die Querelen um die Nachfolge des Verlagspatriarchen Siegfried Unseld nach dessen Tod 2003 beschädigten das Image der Suhrkamp Kultur. Die Frankfurter Rundschau schreibt im November 2003 zum Nachfolgespektakel:

Sprecher 03: „Suhrkamp steht immer noch stellvertretend für ein Wertesystem, dessen Erosion eine bestimmte Generation befürchtet: Die Aura erschließt sich apokalyptisch: Wenn Suhrkamp nicht mehr ist, was Suhrkamp einmal war, dann müssen wir alle zu Untergehern werden, um mit Thomas Bernhard zu sprechen (dem der Suhrkamp Verlag gerade eine große Werkausgabe widmet). Fest steht, dass ganze intellektuelle Biographien – bestimmter Jahrgänge, wohlgemerkt – sich mühelos anhand von Suhrkamp Autoren erzählen lassen, was die Lage nicht einfacher macht.“

Sprecherin 02: Die Großen der Branche werden immer größer und schlucken Charakter und Individualität wie schwarze Löcher das Licht. Und Suhrkamp? Wahrscheinlich war dessen letzte Trendentdeckung Rainald Goetz und sein Stil bildender Roman „Irre“, der 1983 erschienen ist. Und die Suhrkamp Kultur? Wolfgang Farkas vom Münchner Blumenbar Verlag:

Wolfgang Farkas (blumenbar): „Es gab eine Suhrkamp Kultur, die am Untergehen, oder schon untergegangen ist. [...] Und [...] unsere Arbeit besteht darin, eine gegenwärtigere Kultur aufzubauen.“ [O-Ton WOLFI gegenwärtige kultur]

Sprecherin 02: Sie geben sich selbstbewusst, die Enkel von Unseld, Fischer und Rowohlt. Sie erkennen die Chance, die der Markt zurzeit kleinen Verlagen bietet. Im Vakuum zwischen Monopolisierung und Niedergang alter Verlagskulturen ist ein Raum entstanden, der gerade den jungen Unabhängigen nützt. „Individualität“ ist das Stichwort.

Thomas Sparr (suhrkamp): „Das Verlagsgeschäft lebt bestimmt von Individuen und von deren Vorlieben, Animositäten, Empfindlichkeiten, die natürlich immer schwer wägbar sind.“ (O-Ton SPARR individuum)

Sprecherin 02: Die „intellektuellen Trendverlage“ verkörpern eine Sehnsucht, eine Suche nach Persönlichkeiten in einem zunehmend anonymen Geschäft, in dem die Verlagsvorschauen immer umfangreicher und unübersichtlicher werden und die Inhalte austauschbar scheinen.

Oliver Brauer (Yedermann): „Der Vorteil von den kleinen Verlagen ist: Wir können schneller sein. Wir können genauer sein. Wir können schöne Produkte machen, die dann auch den Zeitgeist der Leserschaft wesentlich besser treffen. Und da können wir den Großen unheimliche Schnäppchen schlagen.“ [O-Ton BRAUER schnäppchen]

Sprecherin 02: Oliver Brauer von Yedermann. Mit ihrem persönlichen Auftreten haben die jungen Verlage gerade bei Journalisten einen guten Stand. Gerrit Bartels, Literaturredakteur der taz, und Volker Isfort, Kulturchef der Münchner Abendzeitung:

Gerrit Bartels (taz): Dadurch, dass sie so klein sind, haben sie eher die Chance, einfach intensiver für die wenigen Bücher, die sie machen, irgendwie auch zu arbeiten. (...) Tropen und Kookbooks, die machen's eben sehr gut. Die machen wirklich so ne sehr gute Marketingarbeit, auch von den Büchern her, also die Bücher sind ja leicht erkennbar. Denkste ach Mensch, das ist jetzt ein blumenbar-Buch, das ist n Kookbooks-Buch.“

Volker Isfort (Abendzeitung): „Und dann sucht man sich natürlich Bücher aus von Kleinverlagen, weil die natürlich irgendwie mehr Aufmerksamkeit verdienen. Das heißt nicht, dass man die Bücher an sich schon deswegen toll findet, weil sie aus einem kleinen Verlag kommen, aber im Grunde genommen gibt man einem neuen Verlag in Anführungsstrichen eher die Chance als einem riesigen Konzern. (...) Kleinverlage haben nicht die Möglichkeit, Anzeigen zu machen oder große Kampagnen. Und wenn man jetzt meint, es sei ein Buch, was aber eine gewisse Öffentlichkeit verdient, dann muss man ja als Journalist dafür sorgen, dass es wenigstens ein bisschen bekannt wird.“

O-Ton 22 Oliver Brauer (Yedermann): „Die Leute in der Journalistik – die Berichterstattung und in der Buchbranche, die brauchten mal etwas Neues. Das ist unglaublich spannend. Da sind lauter nette, junge, gut aussehende, kreative Köpfe, machen das, was alle immer wollten. Die machen ihren eigenen Verlag, weil ihnen das, was sie machen wirklich gut gefällt. Die gestalten das so, wie sie es wollten und nicht wie es der Art-Director von ganz Oben vorgibt. Und die haben auch noch Erfolg damit. [...] Wir - - wir werden beneidet, glaube ich.“ (O-Ton BRAUER neidfaktor)


Sprecher 03: (Marx) „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihm als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. [...] Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innere Welt, um so weniger gehört ihm zu eigen.“

Sprecherin 02: Bei den Großen der Branche hat man die Aufbruchsstimmung, die bei den neuen Unabhängigen herrscht, inzwischen auch registriert.

Ulrich Genzler (Heyne): „Weil – das ist ja, Gott sei Dank, so – dass die (...) Verlagsmacher nach Projekten, Inhalten und Themen suchen, die sehr nah an ihrer eigenen Welt, an ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Erfahrung dran sind. [...] dass die sich auch für fiktionale Aufbereitungen interessieren, die genau mit dieser Thematik auch umgegangen sind. Und dass es jetzt nicht nur eine höchst individuelle, kleine spleenartige Nummer ist, das ist ja total klar. Das ist auch eine ganz breite Bewegung. Und daher erfahren die auch so eine Aufmerksamkeit.“ [O-Ton GENZLER nah dran]

Sprecherin 02: Ulrich Genzler, Programmchef bei Heyne, hat sein Büro in einem gesichtslosen Bau in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs. Draußen an der Fassade flattert ein Transparent, das von Leerstand zeugt und um neue Mieter wirbt. Genzler sitzt in einem weitläufigen Büro hinter einem breiten Schreibtisch. Im Regal an der Wand stehen aufgereiht die Heyne-Bücher. Links davon ein Konferenztisch. Die Möbel wirken in dem großen Raum verloren, als sei gerade jemand umgezogen und hätte es noch nicht geschafft, alles an seinen Platz zu stellen. Der Taschenbuchverlag Heyne gehört inzwischen auch zur Random House Gruppe. Ist also einer von den ganz Großen. Mit entsprechend wenig individuellem Profil.

Ulrich Genzler (Heyne): „Da sind unsere Möglichkeiten, uns anders darzustellen doch sehr begrenzt, weil – ja – weil wir wirklich auch anders sind – das muss man ja nun auch sagen, ja.“ [O-Ton GENZLER begrenzt]

Sprecherin 02: Der Platz für Experimente, für das Ausprobieren neuer literarischer Formen, ist in großen Verlagshäusern eher gering – gibt Ulrich Genzler zu. Doch genau davon leben die „Kleinen“: Wolfgang Farkas vom Blumenbar Verlag.

O-Ton 25 Wolfgang Farkas: „Wir machen bestimmt Bücher [...] die Wert legen auf formale, sprachliche Qualität. Inhaltlich, thematisch ist eine Ausrichtung, die sehr viel zu tun hat, einerseits mit diesem Aufbruch, auch mit einer Suche und einem Nichtwissen und Nichtgenauwissen, wie die Welt funktioniert, wie die Gesellschaft funktioniert, wie Liebe funktioniert. Diese Suche, dieses Wissenwollen und dieses Dahinterkommenwollen, was die menschliche Existenz, hoch gestochen gesagt, aber auch was die eigene Existenz ausmacht, das ist bestimmt ein Antrieb.“ [O-Ton WOLFI nichtwissen]

Musik/Einspieler 09 GERHARD FALKNER (Autor kookbooks) von CD:
„ich habe zu wenig geschlafen
    in diesem Jahrhundert!
ein zwei drei
    zwei drei – vier
    oder fünf Stunden
pro Nacht, oder Monat
    oder Jahr
damals, in der Zeit des kurzen Schlafs
    war noch ziemlich viel wahr
die Zeit hatte Zeit
    und man war nackt
wenn man Geduld hatte
    sich zu entkleiden

ich habe zu wenig geredet
in diesem Jahrhundert!
ein zwei drei
zwei drei – vier
oder fünf Worte vielleicht
oder Sätze, oder Sprachen
es gab noch keinen 11. September
keinen 3. Oktober
und keinen 15. März
die Gelegenheit also war günstig
der Zeit die Freiheit zu lassen
einmal den Ort zu spielen“

Sprecherin 02: Die Zeit einmal den Ort spielen lassen – so beginnt Gerhard Falkners 70 Seiten langes Gedicht „Gegensprechstadt – ground zero“, das im kookbooks Verlag von Daniela Seel erschienen ist. Auf dem Buchcover sind, typisch für kookbooks, feine klare Linien zu sehen, die zu kleinteiligen Mustern zusammenfließen, die sich gegenseitig überlagern. Die sparsam kolorierten Grafiken schaffen ein Erkennungsmuster, das die kookbooks im Regal der Buchhandlungen aus der Masse hervorhebt.

Sprecherin 02: Zusammen mit dem Avantgarde-Musiker David Moss vertonte Falkner sein Werk. Die CD ist dem Buch beigelegt. „Gegensprechstadt – ground zero“ ist eine Art Spaziergang durch Berlin, durch urbanes und historisches Gelände, durch Szenen und Bilder.

26 Gerhard Falkner (kookbooks): „Ich hab gesagt, dass ich eigentlich jetzt in diesem Langgedicht noch mal eine neue Form entwickeln wollte. Für mich war halt wichtig, jetzt ein Langgedicht so aus ungesättigten Bildern [...]  aufzubauen. Es ist eigentlich keine Erzählung, sondern die einzelnen Teile schließen in einer nicht chronologischen Form aneinander an und das war der Punkt, der mich am meisten daran interessiert hat.“

Sprecherin 02: Gerhard Falkner ist Jahrgang 1951 und damit der älteste unter den kookbooks-Autoren. Als Lyriker hat er sich längst einen Namen gemacht. Seine früheren Gedichtbände erschienen bei Luchterhand, Suhrkamp und DuMont. 2004 wurde sein Werk mit dem Schillerpreis ausgezeichnet. Warum veröffentlicht er nun bei einem kleinen Verlag wie kookbooks?

Gerhard Falkner (kookbooks): „ Der nahe liegendste Grund ist der, dass ich Daniela Seel kenne, bevor sie kookbooks gegründet hat. Ich erfuhr von der Verlagsgründung sehr früh, und das hat sich alles sehr interessant angehört.“

Sprecherin 02: Es gibt aber auch noch einen anderen, pragmatischen Grund:

Gerhard Falkner (kookbooks): „Das erste Konzept war so ungefähr auf dreißig Seiten veranschlagt und das wäre einfach nicht umfangreich genug gewesen, um das jetzt beispielsweise bei DuMont zu machen, denn die haben keine Reihe mit ganz schmalen Gedichtbänden.“

Sprecherin 02: Das Gedicht wurde dann zwar doch noch 40 Seiten länger, aber da hatte es Falkner ja bereits Daniela Seel versprochen. Es passt zum Profil des Verlags: Ein Schwerpunkt von kookbooks ist die Lyrik.

Daniela Seel (kookbooks):  „Mich interessiert vor allen Dingen Literatur, die sich in gewisser Weise als Forschung begreift. Die versucht, überhaupt was herauszufinden über das Verhältnis von Sprache und Welt und wie kann man das in Kunst transformieren. Mich interessiert weniger das reine Geschichten-Erzählen. Wir haben ja einen großen Schwerpunkt im Bereich Lyrik, was ja ganz selten geworden ist, das überhaupt Verlage sich um diese Gattung bemühen. Da können wir einfach reingehen in diese aufgelassenen Brachen jetzt und gerade in der Lyrik ist das relativ gut auch gelungen.“

Sprecherin 02: Daniela Seel ist eine zierliche Person. Die dunklen Haare trägt sie kurz. Wie einige ihrer jetzigen Autoren gehörte sie früher zum Berliner Künstlernetzwerk KOOK. Im Frühling 2003 beschloss sie, einen Verlag zu gründen und damit auch befreundeten Autoren eine Möglichkeit zu geben, ihre Texte zu veröffentlichen.

Daniela Seel (kookbooks):  „Es war absehbar, dass der Zeitrahmen, in dem man so einen Verlag gründen konnte, nicht sehr weit ist, weil wenn man noch zwei-drei Jahre gewartet hätte, wären die vielleicht in anderen Verlagen mit ihren Büchern untergekommen. Und dann wäre diese einmalige Chance nicht mehr da gewesen.“

Sprecherin 02: Seitdem arbeitet die 31-Jährige in ihrem Büro im hessischen Idstein - als Lektorin und als Verlegerin.

Daniela Seel (kookbooks):  „Wir versuchen, uns als eine Art Anti-Verlag in diesem Buchmarkt zu bewegen. Wir sind die Ohnmächtigen, wir haben keine Marktmacht, aber wir sind trotzdem da.“

Sprecherin 02: Dass man mit Lyrik kein großes Geld verdienen kann, scheint sie nicht zu stören. Um über die Runden zu kommen, arbeitet sie nebenbei auch als Korrektorin und Lektorin für andere. Die Vorstellung, von Literatur leben zu wollen, findet sie sowohl für sich als auch für ihre Autoren problematisch.

Daniela Seel (kookbooks): „In dem Augenblick wo ein Autor hingeht und sagt, ich will von Beruf Autor sein, ich will davon leben können, ist er ja in einer gewissen Weise angewiesen darauf, mit dem Markt zu kooperieren und bestimmte Zugeständnisse zu machen, um zugänglicher zu sein. Und deswegen find ich, ist es eigentlich auch doppelt gut, ein Lyrikprogramm zu machen, weil das ja eigentlich ne Gattung ist, wo jeder, der sich ernsthaft damit beschäftigt, von vornherein ausschließen kann, dass ihn das jemals reich machen kann.“

Sprecherin 02: Was würde Daniela Seel machen, wenn sie nun doch einmal ganz viel Geld mit einem ihrer Bücher verdienen sollte?

Daniela Seel (kookbooks): Lachen. „Weiß nicht, dann würde ich das vielleicht für schlechtere Zeiten... keine Ahnung, das ist so eine absurde Vorstellung... Dann würde ich vielleicht noch unverkäuflichere Projekte machen, die schön wären, wenn sie da wären.“

Musik/Einspieler 11 Gerhard Falkner (Autor kookbooks) von CD:

„heute ist immer heute
    hat Sie schon mal jemand gefragt
haben wir heute heute
    und Sie konnten, einigermaßen bei Verstand
antworten: nein, heute ist nicht heute
    na sehen Sie
dann ist auch morgen heute
    denn morgen werden Sie dasselbe antworten
wir brauchen also keinen Dienstag
    wenn Montag schon heute ist
und trotzdem haben wir heute Dienstag
    Dienstag, den 11. September
und Dienstag, den 3. Oktober
    und Dienstag, den 15. März
und Sie bestreiten den Zufall?
    Zufall, meine Damen und Herren
stellt sich allein dadurch schon unter Beweis,
    dass er vorkommt
und in den Pisaner Cantos heißt es dazu
„If we wouldn´t be stupid
we wouldn´t be here!“

Sprecherin 02: Die Independents setzen Akzente im Buchgeschäft. Dazu gehört auch die Selbstinszenierung der Verleger, deren Persönlichkeit das Buchprogramm spiegelt und die umgekehrt ihre Produkte prägen.

Ulrich Genzler (Heyne): „Es ist immer leichter, ein überschaubares Programm mit einem Profil zu versehen als ein riesig großes Programm mit einem wahnsinnigen inhaltlichen Gefälle.“ [O-Ton GENZLER profil]

Sprecher 03 (Marx): „Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand. Je größer also diese Tätigkeit, um so gegenstandsloser ist der Arbeiter. Was das Produkt seiner Arbeit ist, ist er nicht. Je größer also dieses Produkt, je weniger ist er selbst.“

O-Ton 35 Oliver Brauer (Yedermann): „Gründungsmythos – das ist eine schöne Frage. [...] Mein Kollege Sebastian und ich, wir haben beide in einem Dissertationsverlag gearbeitet, wo wir juristische Dissertationen in grau-orange Umschläge geklatscht haben. Man muss sich das im Wesentlichen vorstellen, dass man hässliche Bücher macht, von deren Inhalt man nicht viel versteht, weil man kein Jurist ist. Und da entstand der Wille, wir können es besser machen. Wir können es schöner machen und wir [...] können Leuten den Einstieg in den Literaturbetrieb ermöglichen.“ [O-Ton BRAUER mythos]

Musik/Einspieler 15: Ausschnitt aus einem Poetry Slam im Münchner Substanz

O-Ton 36 Oliver Brauer (Yedermann): „Wir sind von Anfang aktiv auf Suche gegangen [...] es war schon: wir wollen Programm machen und jetzt gehen wir raus. [...] Und ein großer Ursprungsteil war diese Poetryslam-Szene hier in München, die sehr groß und vital ist, wo sich unglaublich viele Leute tummeln. Wo man dann, sagen wir mal so [lacht], seinen Blick schärfen muss über die Jahre. Und dort haben wir die ersten, die meisten Autoren kennen gelernt in diesem Umfeld, weil der Slam – man mag ihn sehen wie er ist – doch unglaublich viele Autoren zusammenbringt. [O-Ton BRAUER slam]

Sprecherin 02: Oliver Brauer sitzt am Küchentisch seiner WG in der Münchner Amalienstraße zwischen Universität und Odeonsplatz. Im Hinterhof bauen Handwerker ein Gerüst auf. Eine Lampe über dem Tisch wirft warmes Licht auf alte Holzstühle, einen alten Küchenschrank. Vor fast genau fünf Jahren hat Oliver Brauer zusammen mit seinem Kollegen Sebastian Myrus, der hauptberuflich klassischer Sänger ist, den Yedermann Verlag – Yedermann mit Y – gegründet. Für ihre Bücher erhielten sie viel Lob in Szenezeitschriften und Feuilletons. Ihre Slam-Poetry-Anthologie mit dem Titel „Planet Slam“, die Texte von 50 Autoren umfasst, nannte das Freiburger Magazin sub culture:

Sprecher 03: „the hottest in print this summer. Wer wissen will, wo die junge lyrische 'Musik’ spielt, kommt an diesem Buch nicht vorbei." “

Sprecherin 02: Mit der „Anthologie erotischer Gedichte des Expressionismus geordnet nach Positionen, Situationen, Körperteilen, Organen und Perversionen“ landete der kleine Verlag dann einen echten Treffer. Die Literaturkritik war begeistert, das Buch entwickelte sich zum Verkaufserfolg. Zusammengestellt hat die zum Teil unbekannten Gedichte der Expressionismusexperte Hartmut Geerken. Unter anderem finden sich in dem Band Werke von Hugo Ball, Gottfried Benn, Max Herrmann-Neise, Jakob van Hoddis, Kurt Schwitters - und Alfred Lichtensteins „Der Angetrunkene“:

Sprecher 01:
Man muß sich so sehr hüten, daß man nicht
Ohn jeden Anlaß aufbrüllt wie ein Tier.
Daß man der ganzen Kellnerschaft Gesicht
Nicht kurz und klein haut, übergießt mit Bier.

Daß man sich nicht die ekle Zeit verkürzt,
Indem man sich in einen Rinnstein legt.
Daß man sich nicht von einer Brücke stürzt.
Daß man dem Freund nicht in die Fresse schlägt.

Daß man nicht plötzlich unter Hundswauwau
Die Kleider sich vom feisten Leibe reißt.
Daß man nicht irgendeiner lieben Frau
Den finstern Schädel in die Schenkel schmeißt.

Oliver Brauer (Yedermann): „Es versammelt alle wesentlichen Dichter des Expressionismus, die es so gibt. Alle Klassiker, wie Anna Blume sind drin, bis zu Leuten, die nur vier Gedichte geschrieben haben und dann im Ersten oder Zweiten Weltkrieg elendiglich irgendwo verreckt sind. Also von einem Kenner eine super Sammlung. Nur mit diesem gewissen Twist, den [...] Verlage wie wir halt viel leichter nehmen können, weil wir den Humor haben, geordnet nach Situationen, Stellungen, Positionen, Körperteilen und Perversionen. [...] Und das hat eine Taschenbuchtochter der Random House Gruppe so überzeugt, dass sie uns ein [...] Angebot gemacht haben und es nächstes Jahr im Taschenbuch auswerten werden.“ [O-Ton BRAUER twist]

Sprecherin 02: ... Von Konkurrenz zu den Großen Verlagen kann in diesem Fall keine Rede sein. Im Gegenteil.

Oliver Brauer (Yedermann): „Das war ein schöner Moment. – Das bedeutet nicht, dass jetzt das Geld auf die Schultern regnet. Es bedeutet einfach: "Eure Produkte sind gut. Wir glauben, dass wir die so richtig gut auswerten können." [...] In dem Moment war uns klar, wir sind ein echter Verlag.“ [O-Ton BRAUER echter verlag]

Sprecherin 02: Die Independents betrachten sich als Profis. Innerhalb des Systems und des Marktes. Sie wollen keine Gegenkultur aufbauen oder das kapitalistische System umwerfen. Sie wollen im Buchgeschäft zurecht kommen. So wie es ist. Sie wollen damit leben, darin überleben – aber eben mit ihren eigenen Produkten, ihren eigenen Ideen.

Oliver Brauer (Yedermann): „Wir kleineren Verlage [...], wir sind keine Weltverbesserer. [...] Menschen mit großer politischer Message. [...] Wir sind, glaube ich, nicht angetreten wie viele Gründungen der 60er und 70er Jahre mit "wir verändern die Gesellschaft" [...] Diesen Anspruch haben die meisten Kollegen von uns nicht.“

Sprecherin 02: Das ist der Unterschied zu den intellektuellen Trendverlagen vor 30, 35 Jahren. Klaus Wagenbach zum Beispiel, der damals unter anderem RAF-Texte veröffentlichte und sich erhebliche Schwierigkeiten mit der Staatsanwaltschaft einhandelte. Susanne Schüssler, Frau von Klaus Wagenbach und Geschäftsführerin des Verlags:

Susanne Schüssler (Wagenbach): „Die Leser waren begierig, politische Bücher zu lesen, die eine andere Sicht hatten und die Autoren waren auch begierig, diese Bücher auch zu schreiben. Bücher werden ja auch in den Verlag hineingetragen und der Verlag trägt sie dann weiter. (...) Irgendwann war das auch so, dass wir eher Mühe hatten, die Bücher, die wir aus Überzeugung machen wollten, zu machen. (...) das heißt, es ist auch die Wahrnehmung nicht mehr da, und die Auflagenzahlen für solche Bücher haben sich verändert.“

Sprecherin 02: Längst bestimmen nicht mehr die politischen Bücher, sondern die italienische Literatur das Profil des Wagenbach Verlags. Anders als die alten Unabhängigen damals treten die meisten Independents heute gar nicht erst mit einem politischen Anspruch an.

Oliver Brauer (Yedermann): „Ich glaube wir wollen Medienmenschen sein. Wir wollen Inhalte präsentieren. Wir wollen Alternativen ein Forum bieten, die aber trotzdem tendenziell so viel Geschmack treffen, dass sie schon fast Massengeschmack werden. [...] Nur dann verkauft man als kleinerer Verlag eine Lizenz an einen Taschenbuchverlag, der dann damit rechnet, 20-, 40-tausend Stück zu verkaufen [...] Unsere Produkte sind breitentauglich und das unterscheidet uns.“ [O-Ton BRAUER weltverbesserer]

Sprecherin 02: Doch was unterscheidet dann Yedermann von andern Verlagen, die hier und heute Belletristik herausbringen? Die Auswahl der Inhalte und der Autoren. Sprich – Der Geschmack!

O-Ton 42 Oliver Brauer (Yedermann): „Wir mögen Erzähler, die in einer Sprache sprechen, die sie von anderen abhebt. Und abheben meine ich nicht im arroganten Sinne, im wesentlich Bessersein und nur keiner erkennt es, sondern ich finde, wenn man Gunther Gerlach liest und dann einen Text blind bekäme, würde man sehr schnell sehen, das ist ein Gunther Gerlach. [...] Also Autoren, die eine sehr eigene Sprache entwickelt haben, ohne dass man dabei sagt, jetzt ist alles klein geschrieben, die Sätze sind unglaublich lang und ich verstehe es einfach nicht, weil es so verkopft ist, sondern einfach eine prägnante klare Sprache sprechen.“ [O-Ton BRAUER klare sprache]

Musik/Einspieler 17: APPARAT.DUPLEX, SHITKATAPULT, Track 1, einblenden Ende O-Ton Brauer, nach 15 Sek Sprecher rein, liegt unter gesamtem Text Sprecher 01.

Sprecher 01: (Text aus Gunther Gerlachs Roman „Ich bin nicht“)
In diesem Moment, in dem wir die Fotos in unseren Pässen vergleichen, erscheint es mir wie die Lösung aller meiner Probleme. Es ist eine Art, sich unsichtbar zu machen. Ich verschwinde, und wer mich dennoch findet, dem kann ich sagen, ich sei ein anderer. Ich brauche nur mein Haar zurückzukämmen, um dem Foto meines Gegenübers noch mehr zu gleichen. Vor Jahren hatte ich eine ähnliche Frisur.
Wir schieben unsere Pässe in die Mitte des Tisches, dann zieht jeder den Pass des anderen zu sich heran und steckt ihn ein. Ich sehe mich um, ob uns in dem Flughafencafé jemand beobachtet hat. Der Kellner steht am Tresen, dreht sich gerade herum, verkennt meinen Blick und kommt heran.
„Noch einen Kaffee“, sage ich, obwohl es der dritte oder vierte ist, dann kehre ich mit den Augen zu jenem Mann zurück, der jetzt ich ist. Er lächelt, lehnt sich zurück, und ich finde, er ist mir nicht ähnlich. Er ist drei Jahre älter, größer, breiter, muskulöser. Aber das Gesicht in seinem Pass könnte ebenso meines sein.
„Ich hoffe, du bist kein Verbrecher“, sagt der Mann, der jetzt ich ist.
„Ich bin eher eine Art Opfer.“
Er nickt, verschränkt die Arme und richtet sich in mir ein. Ich habe ihm die ganze Geschichte von D. erzählt, deren Namen ich nicht mehr nennen mag, und die mich fast umgebracht hätte. Ich musste jemandem alles erzählen, um mich zu rechtfertigen. Der Mann, der jetzt ich ist, hat mir Recht gegeben. Mehr noch. Aus einer Laune heraus und aus Überdruss, seine eigene Aufgabe wahrzunehmen, hat er mir angeboten, unsere gebuchten Flüge zu tauschen. Mehr noch. Jeder soll für die Dauer der Reise der andere sein.

Sprecherin 02: Gunter Gerlach ist ein bekannter Autor. Er hat den Friedrich-Glauser Preis gleich mehrmals bekommen. Den deutschen Krimipreis, den Krimi-Stadtschreiber-Preis in Flensburg. Er ist berühmt für seine Krimis. Aber Krimis eben. Und das ist im Literaturbetrieb schlecht. Schlecht, wenn der Autor auch einmal etwas anderes machen will als seine mehrfach ausgezeichneten Mordstücke. Dann ist es schwierig, einen Verlag zu finden für die „normale“ Belletristik. Genau darin liegt die Chance für junge Verlage, die nicht in Sparten denken und so einen Autor wie Gunter Gerlach für sich gewinnen können. Gunter Gerlach kam zu Yedermann über einen befreundeten Autor, der sich von den beiden Independent-Verlegern aus München gut betreut gef ...

Musik/Einspieler 18 von CD „Leaving Chuck’s Zimmer – Ein musikalisch-poetischer Soundtrack mit Gedichten von und gesprochen von Wolf Wondratscheck“ Musik von Sefid Sout ; Track 1; Alle Richtungen, reingehen nach 1´20:

„Das Absolute ist eine Sache von Sekunden
Ich bringe dich zum Flughafen
Ein Aufschrei der Ruhe geht durch meinen Körper
Bald trennen uns Wolken

Mit der Langsamkeit eines traurigen Gedankens
Rollt die Maschine zur Startbahn
Darüber wölbt sich der Himmel
Von Abschied zu Abschied

Dein Flugzeug ist schon jetzt kleiner
Als ein weggeworfenes Streichholz

Lass dich fallen
Lass dich in alle Himmelsrichtungen
Zu Boden fallen

Sprecherin 02: Wolf Wondratschek ist ein Starautor und eine Poplyriklegende. Der blumenbar Verlag hat ein Hörbuch aus und mit seinen Gedichten gemacht, ein "musikalisch-poetischer Soundtrack", von Wondratschek selbst gelesen. Mit der Musik von Sefid Sout [spricht man wie man es schreibt, also nicht Saut, sondern Sout]. - Wolfgang Farkas.

Wolfgang Farkas (blumenbar): „Was blumenbar auszeichnet, steckt schon in der Anfangsgeschichte, die ja darin besteht, dass auf einer Wohnungswand das Wort blumenbar hingeschrieben wird, dass Leute eingeladen werden, Freundeskreis, Bekanntenkreis, auch so Leute, die das irgendwie mitbekommen und dass  letztendlich ein Wagnis und eine Lust am Ausprobieren dahinter steckt.“ [O-Ton WOLFI anfang]

Sprecherin 02: Der Gründungsmythos der blumenbar geht zurück auf das Jahr 1997. Nach einem Einzugsfest von Wolfgang Farkas und Lars Birken-Bertsch entwickelt sich in deren Wohnung in der Blumenstraße gleich gegenüber des Münchner Viktualienmarktes ein lebendiger, literarischer Salon. Zu den blumenbar-Abenden räumen die beiden ihr Wohnzimmer leer, stellen Möbelstücke, Bücher, Matratzen in die kleine Abstellkammer und laden Autoren wie Albert Ostermaier oder Helmut Krausser ein. FX Karl, der im selben Haus wohnt, kam zunächst nur als Gast.

Sprecherin 02:  Nach den Lesungen legen DJs Platten auf. Es wird getanzt, getrunken, meist bis gegenüber die Marktfrauen ihre Stände auf dem Viktualienmarkt öffnen und die ersten Kunden das frische Gemüse begutachten. Die Blumenbar in der Blumenstraße entwickelt sich zu einer der angesagtesten Adressen im Münchner Nachtleben. Schließlich kommen so viele Literaturhungrige, dass sie bis ins Treppenhaus stehen, da in der Altbauwohnung kein Platz mehr ist.

Wolfgang Farkas: „Ohne, dass es ein Ziel gewesen wäre auf einen Verlag zuzusteuern, hat sich daraus so eine Energie und so ein breites Feld von Kontakten entwickelt, dass nach einer Zeit von fünf Jahren die Überlegung war, weiterzumachen, in der Weise, nicht bei Veranstaltungen stehen zu bleiben, sondern dem ganzen ein Fundament zu geben. Und einer unserer Gäste hatte zu der Zeit auch ein sehr, sehr tolles Romanmanuskript, das er uns dann auch gegeben hat und beides zusammen hat dann den Anfang von blumenbar gesetzt.“ [O-Ton WOLFI kein plan]

Sprecherin 02: - „Memomat“ von FX Karl. Möglich gemacht wurden die Verlagsgründung und der Druck des Buches durch den Förderclub der blumenbar. Die Mitglieder finanzieren mit je 50 Euro den Start ins Literaturgeschäft. Was die Gäste der literarischen Clubabende begeistert, freut den Vermieter immer weniger. Schließlich muss sich die Blumenbar andere Veranstaltungsorte suchen. Das Verlags-Büro richten sich Wolfgang Farkas und Lars Birken-Bertsch in der Schwanthaler Straße ein. Inzwischen hat die Blumenbar auch einen festen Platz im Münchner Kunstverein gefunden: ein Ort der Verbindung zwischen Literatur, Musik, Kunst und Film.

Wolfgang Farkas: „Es ist vor allem ein ganz wichtiger Treffpunkt. Und ansatzweise ist es das, wovon jede Marketingabteilung eines anderen Verlages träumen würde, ohne dass das jetzt ein Marketingprojekt ist. Es gibt so eine Szene, wo jemand kurz vor Mitternacht noch kurz ein Bier trinkt und ein Buch bestellt und das dann kauft und mit nach Hause nimmt. Und das ist die Idealkombination.

Lars Birken-Bertsch: „Es ist ein öffentlicher Raum, aber es ist trotzdem keine reguläre Bar.“

Wolfgang Farkas: „Es hat schon auch so einen Halbprivatcharakter, was auch ganz wichtig für den Ort ist.“ [O-Ton WOLFILARS treffpunkt]

Sprecherin 02: Die Verbindung verschiedener Genres ist bei blumenbar Programm. Insofern war die Produktion der Wondratschek-CD nur folgerichtig.

Wolfgang Farkas: „Das ist – glaube ich auch schon ein Unterschied zu traditionelleren Verlagen: Das Interesse von uns als Personen, aber auch als Verlag und als Veranstalter, das hört ja nicht bei Literatur auf. Literatur ist ein ganz wesentlicher Teil, aber es ist von Anfang an schon immer ein sehr erweiterter Bereich, in dem es zu Künstlern, Musikern Kontakte gibt und es ist sehr wichtig, dass daraus unter Umständen Romane von Leuten entstehen, die sich bisher gar nicht als Schriftsteller wahrgenommen haben, wo dann in der gemeinsamen Entwicklung, im Kontakt Ideen entstehen, die dann zu einem Roman führen, der vorher vielleicht nicht da gewesen wäre.“ [O-Ton WOLFI Interesse]

Sprecherin 02: Die Independents sind näher am „Puls der Zeit“, sie sind ein Teil der Szene, aus der ihre Autoren und ihre Leser kommen. Auch das unterscheidet sie von den Großen der Branche.

Thomas Sparr (Suhrkamp): „Das ist sicher ein Vorteil kleinerer Verlage, dass sie nah an den Szenen sind und dass sie dafür natürlich nur ein kleines Segment publizistisch umsetzen, was bei uns ein bisschen ein anderer Auftrag ist als Verlag.“ [O-Ton SPARR szenen]

Sprecherin 02: Thomas Sparr von Suhrkamp. Auch Ulrich Genzler von Heyne beobachtet das Phänomen:

Ulrich Genzler (Heyne): Diese Verklammerung von Rezensent und Produzent, da mag was dran sein, dass die viel näher zusammengerückt ist. [...] Wobei das [...] für uns so ein Aspekt ist, den wir interessiert beobachten und uns freuen, wenn aus dieser Konstellation interessante Bücher und interessante Projekte entstehen.“ [O-Ton GENZLER verklammerung]

Sprecherin 02: Bücher und Projekte, die es regelmäßig in die Feuilletons der großen Zeitungen und Magazine schaffen: Paulo Lins „Die Stadt Gottes – City of God“, Hunter S. Thompsons „Rum Diaries“, Anne Zielkes „Arraia“, Erin Cosgroves  „Die Baader-Meinhof-Affäre – Ein romantisches Manifest“, Matias Faldbakkens „The Cocka Hola Company“, Thomas Palzers „Ruin“ und Raul Zeliks „Berliner Verhältnisse“.

Wolfgang Farkas (blumenbar): „Es ist aber auch relativ wichtig, was es für einen aktuellen gesellschaftlichen Bezug hat. Und da ist die Bedachtsamkeit sehr groß, was gerade ein gesellschaftliches Thema ist. Und wenn das gesellschaftliche Thema auch eines ist von wirtschaftlicher Krise [...] dann passt wiederum sehr gut ein Roman wie Berliner Verhältnisse, [...] der das Thema finanzielle oder auch gesellschaftlich Krise von einer anderen Seite aus betrachtet, indem eine Wohngemeinschaft gerade dadurch wirtschaftlich erfolgreich wird, indem es sich als privates Inkassounternehmen betätigt und gleichzeitig das eigene Freakdasein in Frage gestellt wird.“ [O-Ton WOLFI linie]

Sprecher 01 (Text aus Raul Zeliks „Berliner Verhältnisse“):
Selbstverwirklichung! Jeder will sie, jeder strebt nach ihr, jede Werbung führt irgendwas mit ihr im Schilde. Denn erst durch die Selbstverwirklichung – Hobbykeller anlegen, die Sahara durchqueren oder Hochhäuser erklettern – wird der Mensch zum Individuum, das sich von den Idioten in der Reihenhaushälfte nebenan unterscheidet, zum Subjekt, über das sich mehr sagen lässt als: „Ja, wohnt hier... glaube ich... wahrscheinlich“. Der Haken bei der Angelegenheit ist allerdings, dass man sich manchmal so sehr selbst verwirklicht, dass man am Ende nicht mehr weiß, wie die Typen in der Reihenhaushälfte nebenan eigentlich heißen – was denen natürlich genauso geht, weshalb einem am Ende die ganze schöne Individualität nichts nützt. Denn was bringt es, individuell zu sein, wenn niemand etwas davon mitbekommt?
Auch die Bewohner der WG verwirklichten sich dank Patzkys Aufträgen und des unerwartet eingetretenen Geldsegens so sehr selbst, dass sie einander kaum noch sahen.

Sprecherin 02: Wie in „Berliner Verhältnisse“ von Raul Zelik spiegelt sich in vielen Büchern der Independents ein Lebensgefühl wider, das durch eine extreme Vereinzelung und Individualisierung gekennzeichnet ist, ein Lebensgefühl, das den Institutionen, der Gesellschaft misstraut. Doch die Protagonisten entwerfen keine Gegenwelt, keine Utopie. Sie glauben nicht an das richtige Leben im falschen. Ihr Realismus kippt manchmal in Ekel um wie in Matias Faldbakkens neuem Roman „Macht und Rebel“. Ihr eigenes Misstrauen wendet sich oft auch gegen die Helden der Bücher selbst. - Sie sind Suchende, die erkennen, dass die gegenwärtigen Verhältnisse nicht optimal sind. Die aber nicht glauben, die Welt verändern zu können. Und innerhalb der bestehenden Strukturen das Beste aus ihrer Situation zu machen versuchen. In dem Streben nach Individualität, einer nicht entfremdeten Arbeit jenseits umständlicher, willkürlich erscheinender Hierarchien gleichen sich oft die Helden der Romane und die Verleger selbst. Ulrich Genzler von Heyne:

Ulrich Genzler (Heyne): „Das ist ja, Gott sei Dank, so – dass die Programmmacher und Verlagsmacher nach Projekten, Inhalten und Themen suchen, die sehr nah an ihrer eigenen Welt, an ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Erfahrung dran sind [...], dass die sich auch für fiktionale Aufbereitungen interessieren, die genau mit dieser Thematik auch umgegangen sind.“ [O-Ton GENZLER nah dran]

Sprecherin 02: Lars Birken-Bertsch von blumenbar hat mehrere Jahre als Buchhändler gearbeitet, dann in großen Verlagshäusern, unter anderem im Marketing. Wieso also eine eigene Verlagsgründung?

Lars Birken-Bertsch: „Letztlich das unabhängige Arbeiten auf jeden Fall. Ich habe ja die Erfahrung gemacht in mehreren Verlagen in verschiedenen Arbeitsbereichen. Es ist natürlich eine einmalige Chance gewesen.“ [O-Ton LARS unabhängig]

Sprecher 03: „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihm als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. [...] Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innere Welt, um so weniger gehört ihm zu eigen. [...] Worin besteht nun die Entäußerung der Arbeit? Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. [...] Sie gehört einem andren, sie ist der Verlust seiner selbst.“ Karl Marx, ökonomisch-philosophische Manuskripte.

Sprecherin 02: Entfremdung – immer noch. Oder gerade wieder. In einer Welt der Billig-Lohn-Jobs, der Zumutungen von Aushilfs- und Nebentätigkeiten, fremdbestimmter und fremd gewordener Arbeit. In einer solchen Welt erscheinen die jungen Verleger als Helden der Individualität. In Ihnen spiegelt sich die Sehnsucht nach Sinn und Identität. Doch es ist eine Gratwanderung. Zwar wollen sie sich von der entfremdeten Arbeit befreien, aber nicht vom System, das diese Entfremdung erzeugt. Im besten Fall spielen die Akteure - Verleger und Autoren - mit den Elementen der entfremdeten Welt, aber sie ändern sie nicht. Sie schaffen höchstens neue Blicke auf sie, wie Jürg Amann in seiner „Pornographischen Novelle“, die im Kölner Verlag Tisch7 erschienen ist:

Sprecher 01 aus Jürg Amanns „Pornographische Novelle“
Im Gegensatz zu allen Früheren war auch an ihr wieder alles dran gewesen. Kopf, Hals, Rumpf, Po, Arme, Beine, alles dazwischen natürlich. Im Gegensatz, sagte er, und: wieder, sagte er, ich will mit diesem Widerspruch ausdrücken, daß alles zwischen Mann und Frau immer wieder ganz neu ist und immer wieder das alte. Immer wieder wie zum ersten und immer wieder wie zum letzten Mal. Voll Anfang und voll Ende. Weltstürzend und doch nichts als Wiederholung. Einmalig und doch nur Gemeinplatz, auf dem sich alle tummeln und getummelt haben und tummeln werden. Utopisch, aber immer noch voll vom Schleim der Urgeschichte. So war an ihr wieder alles dran. Alles oder fast alles. (...)

Sprecher 01: Und da lag dieser Leib nun, hingestreckt, und er betrachtete ihn. Seine Versehrtheit. Die Brustwarzen schielten ein wenig. Von ihnen aus liefen die Narben schräg aufwärts zur Seite, nach außen, um irgendwo im Versteck der Achselhöhlen zu enden. Kreuzstiche, noch frisch, kaum verheilt, die Einstiche einzeln zu sehen, dazwischen dunkle Einschnitte in die Haut, als ob die Fäden noch nicht herausgenommen worden wären. Ich stellte mir den vor, schrieb er, der diese Frau aufgetan und seine Hände an ihre Adern gelegt und der sie dann wieder zugemacht hatte. Sie hob ihre Arme über den Kopf, wie um mir besseren Einblick zu gewähren, und schloß die Augen. Während sie gleichzeitig die Beine öffnete.

Sprecherin 02: Im Klappentext des blauen Buches steht:

Sprecher 03: „Pornographische Novelle ist eine genaue Erkundung des Grenzverlaufes zwischen Literatur und Pornographie. Dass dieser Text zugleich Pornographie in eine enge, unabweisbare Verbindung mit dem unschuldig-romantischen Wunsch nach Nähe bringt, verleiht ihm eine besondere irritierende Intensität.“

Sprecherin 02: Der Text und das Buch sind ein Experiment. Ein Experiment, das sich nicht auf das Buch selbst beschränkt, sondern hineinragt in die Realität. Das Cover: weiße Schrift auf himmelblauen Grund. Eine Frau mit gespreizten Beinen, abstrakt und reduziert - wie das Piktogramm eines Verkehrsschildes. Irritierend.

Frank Niederländer (Tisch 7): „ Wenn der Text pornographische Novelle heißt, dann muss auf dem Büchertisch auch ein visuelles Signal gesetzt werden, dass es sich tatsächlich um Pornographie handelt. (...) Man merkt jetzt im Augenblick, dass diese Diskussion, die wir zuerst intern geführt haben (...), dass diese Diskussion sich jetzt im Buchhandel wiederholt. Das ist ja genau das, was wir wollten. Wir wollten eine Debatte über Pornographie lostreten. Das ist vielleicht auch eine Besonderheit von einem kleinen Verlag, dass man sich wirklich den einzelnen Titel so genau vornehmen kann.“

Sprecherin 02: Frank Niederländer führt den Verlag Tisch7 seit zwei Jahren zusammen mit seiner Geschäftspartnerin Bettina Hesse in Köln. Mit Anfang 50 sind die beiden die Ältesten unter den Jungverlegern. Doch Arbeitsweise und Verlagsprofil passen zu den anderen Independents. Wie Blumenbar und Yedermann hat auch Tisch 7 einen eigenen Gründungsmythos:

Frank Niederländer (Tisch 7): „Der Beschluss, einen Verlag zu gründen, der ist in einem ganz bestimmten kleinen Lokal in Köln gefallen, das ist ein steirisches Lokal mit dem Namen Zeiritz. Wir haben dann (...) ne ganze Weile überlegt, wie der Verlag denn heißen könnte. Und jedes Mal wenn wir glaubten, dass wir ne ganz tolle Idee hätten, hat unsere Anwältin gesagt: nee das geht leider nicht, der Name ist schon geschützt. (...) Meine Geschäftspartnerin Bettina Hesse hat dann noch mal irgendwann in diesem Lokal gesessen und hat dieses Leid der Namensfindung, hat sich da mit der Bedienung drüber unterhalten. Und die Bedienung hat gesagt: `Wenns ihr dahinten am Tisch7 gsessen habt, dann nennt Euch doch einfach Tisch7`.“

Sprecherin 02: Die Anekdote ist medientauglich und bleibt hängen. Frank Niederländer ist sich dieser Wirkung sicherlich bewusst. Vor seiner Arbeit im Verlag war er Geschäftsführer einer PR-Agentur.

Ulrich Genzler: „Dieses Arbeiten mit einer ganz bestimmten Geschichte: Und wo kommen wir her – so eine Art Überbau zu kreieren – Man kann da böse sagen, das ist so eine Art Mache. Aber [...] wenn ich Journalist wäre, würde mich das auch interessieren. Das gibt einem noch einmal einen ganz anderen Lesegenuss [...] Da werden Akzente hereingebracht, die könnten wir bei bestem Willen, bei allem Einsatz könnten wir das nicht bringen.“ [O-Ton GENZLER einsatz].

Sprecherin 02: ... räumt Ulrich Genzler von Heyne ein. Lars Birken-Bertsch vom blumenbar Verlag:

Lars Birken-Bertsch: „Es scheint nach außen so etwas Romantisches zu haben. Und was aber jetzt ganz klar ist, dass wir jetzt anfangen müssen, sehr genau zu überlegen und nicht mehr flowmäßig, sondern sehr strategisch, unternehmerisch zu arbeiten. Also aus diesen quasi Kinderschuhen, die natürlich auch sympathisch sind, die uns auch ein Stück weit nach vorne gebracht haben aus verschiedenen Faktoren heraus, geht es jetzt darum, den Verlag aufzustellen, sich Ziele zu stecken.“

Sprecherin 02: ... und Thomas Sparr von Suhrkamp warnt sogar:

Thomas Sparr (Suhrkamp): „Man wird sich bei der Wahrnehmung kleiner Verlage auch vor so ein bisschen Sozialkitsch hüten müssen, dass klein gleich fein und gut und gutmütig ist.“ [O-Ton SPARR gutmütig]

Sprecherin 02: Letztlich wird der Erfolg der Independents von der Qualität und der Originalität ihrer Bücher abhängen. So sieht es auch Vito von Eichborn, der Anfang der 80er Jahre seinen Verlag gründete und heute als freier Literaturagent arbeitet.

Vito von Eichborn: „Das Ungewöhnliche, das jede Zeit neu braucht, jede Saison braucht Ungewöhnliches anstelle von Mainstream, das wird in aller Regel von den Kleinen und Unabhängigen erarbeitet in irgendeiner Form. Und dann, wenn es Mainstream geeignet wird, dann wird es natürlich von den Großen weggekauft und dann müssen Neue Unabhängige wieder neue, ungewöhnliche Sachen machen.“

Sprecherin 02: Sein Rat an die Jungen:

Vito von Eichborn: „Um Gottes Willen nur auf das eigene Urteil hören und sich nicht verrückt machen lassen, hemmungslos sein, (...) Sachen machen, die keiner haben will, dann will sie doch jemand haben, denn die Sachen die alle haben wollen sind genau die, die Kleinen nicht finden und nicht können.“

Sprecherin 02: Mit einer Einschränkung:

Vito von Eichborn: „Wer einen Verlag macht, muss ökonomisch Denken. Wer nicht ökonomisch denkt, hat keine Chance, so einfach. Sehr schön, als ich die Andere Bibliothek übernahm und mit Magnus Enzensberger erstmals zusammen saß, erzählte er, wie er bei Unseld war, (...) und er sagt: Ich sah in seinen Augen Geiz und Gier. Und genau das ist die Eigenschaft, die ein Verleger haben muss: Geiz und Gier. Gier auf den Inhalt, Geiz um die Kohle und um den ökonomischen Überlebenskampf. (...) Und im Verdrängungswettbewerb gehört zu werden und einen Platz im Laden zu finden, das ist ja das Hauptproblem. Die kommen ja gar nicht rein. “

Sprecherin 02: Wie die Bücher zum Leser kommen? Das ist eine der zentralen Fragen der jungen, unabhängigen Verlage. Ob in Nordfriesland oder Niederbayern: Die meisten Leser erwarten inzwischen, dass das gewünschte Buch über Nacht an die Buchhandlung um die Ecke geliefert wird. Das geht aber nur, wenn das Buch im Lager des Zwischenbuchhandels, den so genannten Barsortimenten, enthalten ist. Das Unternehmen Libri beispielsweise liefert in Spitzenzeiten bis zu 300.000 Bücher an Buchhandlungen in ganz Deutschland – über Nacht. Für diese Dienstleistung verlangen die Barsortimente von den Verlagen einen Rabatt, einen gewissen Prozentsatz des Ladenpreises. Wie hoch der Rabatt jeweils ausfällt, hängt auch von der Marktmacht des jeweiligen Verlages ab. Auf große Verlage kann ein Barsortiment meist nicht verzichten. Auf Kleine schon eher.

Daniela Seel (Kookbooks): „Diese Rabatte oder diese Konditionen, die geben einfach so viel der notwendigen Gewinnspanne für die Verlage an das Barsortiment ab, (...) dass es dann nicht mehr möglich ist, überhaupt noch mit Gewinn zu wirtschaften, gerade in den Auflagezahlen, mit denen kleine Verlage arbeiten.“

Sprecherin 02: Dennoch ist Daniela Seel von kookbooks mit ihren Büchern in verschiedenen Barsortimenten vertreten. Weil sie auf deren Dienstleistungen angewiesen ist. Nur mit Libri hat sich Daniela Seel bis jetzt nicht einigen können.

Daniela Seel (Kookbooks): „Es gibt noch Schwierigkeiten mit Libri, weil ich da nicht bereit bin, deren Konditionen zu akzeptieren, diese Staffelrabatte, die bei 50 Prozent anfangen und bei 60 noch lange nicht aufhören. Das hat was mit der zunehmenden Marktmacht (...)dieser Großunternehmen zu tun, die dann mit dem Daumen versuchen, da was durchzusetzen. (...) Von meiner Seite aus kann ich auf keinen Fall diese unverschämten Verträge unterschreiben.“

Sprecher 02: Marga Winkler, Geschäftsführerin bei Libri, und Mitarbeiterin, Andreas Galensa, sehen das natürlich etwas anders.

Marga Winkler (Libri): „Ich würde schlicht und einfach sagen: Manchmal menschelts. (...) Da wo Menschen arbeiten, werden auch mal Fehler gemacht. Und wenn ein Verlag sich nicht richtig beurteilt oder richtig eingeschätzt fühlt, dann hat man noch mal die Chance, in dem man noch mal zum zweiten Mal anruft. (...) Wenn wir entscheiden, der Verlag ist für uns wichtig weil: Der Markt verlangt es, weil wir das Produkt so einschätzen, dass  dieses Produkt für unsere Kunden von Interesse ist, dann ist uns jeder neue Verlag sehr wichtig und wir nehmen die Kommunikation mit ihm auf und bestellen auch.“

Andreas Galensa (Libri): „Die etablierten Verlage hat jeder unserer Kollegen in genau derselben Breite. Differenzieren können wir uns nur dadurch, (...) dass wir schneller sind als die anderen, was neue Titel anbelangt. Dass wir auch permanent diese Neugründungen im Blick haben müssen. Vom Inhaltlichen her ist es das Unterscheidungsmerkmal (...) Entscheidend wird sein und ist auch heute schon die Qualität und zu einem nicht geringen Teil auch die Überzeugung der Leute, die hinter diesen Produkten stehen. (...) Also kookbooks ist sicherlich ein sehr gutes Beispiel. Die haben Zukunft. Diese Produkte werden immer auf dem Markt ihre Chance haben.“

Sprecherin 02: Selbst Libri braucht die intellektuellen Trendverlage, um sich von anderen Barsortimenten, von den Konkurrenten zu unterscheiden, um ein eigenes Profil zu haben. Aber -

Marga Winkler (Libri): „Aber bei all dem müssen wir das Betriebswirtschaftliche immer im Auge behalten. (...) Wenn (...) die Spanne zwischen unserem Einkaufsrabatt und Verkaufsrabatt nicht in einer bestimmten Größenordnung ist, dann kostet jedes verkaufte Exemplar Geld.“

Sprecherin 02: Ein Problem für die jungen Verlage sind auch die so genannten Sorglospakete. Die Barsortimente bieten den Buchhandlungen Pakete an, die eine Vorauswahl an Standard-Titeln umfassen. Die Bücher der Independents haben es da schwer. Daniela Seel von Kookbooks:

Daniela Seel: „Was da passiert ist natürlich auch gerade für die unabhängigen Verlage sehr bedenklich, wie man da überhaupt dann noch in bestimmten Buchhandlungen einen Fuß in die Tür kriegen kann bzw. (...) welche alternativen Wege man findet, um die Bücher an die Leser zu bringen.“

Sprecherin 02: Der Zusammenschluss könnte den intellektuellen Trendverlagen gerade im Vertrieb eine Chance bieten. Doch man will sich von dem Netzwerk auch nicht zuviel versprechen. Frank Niederländer vom Verlag Tisch7:

Frank Niederländer (Tisch 7): „Es gibt überall bestehende Strukturen, eine Logistik, die schon irgendwo da ist, freundschaftliche Verbindungen, die schon irgendwo da sind. (...) Wenn man sich zusammenschließt dann bedeutet das natürlich auch immer, das man ein Stück weit seine eigene Identität hinter sich lässt und dass man sich gemeinsam zu was Neuem entschließt. Und das ist in einem Gewerbe wie dem Verlagswesen nicht ganz einfach. Da sitzen wirklich auch Individualisten. (...) Verlage, das sind natürlich alles kleine Königreiche. Und es ist natürlich auch schwierig, eine größere Zahl von kleinen Königreichen zu einem vielleicht etwas größeren Reich zusammen zu führen. (Lachen) Das ist nicht ganz einfach.“

Sprecherin 02: Berlin, Bahnhof Zoo. Die Treppenaufgänge spucken Menschen auf den Bahnsteig. Berufstätige, Schüler, eine Mutter mit Kind, eine Gruppe Reisender. Ein junger Mann mit Laptop-Tasche schiebt mit einem Ruck seinen Mantelärmel hoch und schaut auf die Uhr. Endlich schlängelt sich von Süden her die S-Bahn auf kalten Gleisen in den Bahnhof. Dort, wo der letzte Wagen hält, fast am Ende des Bahnsteigs, steht ein mannshoher Süßwaren-Automat. Die Snickers und Balistos befinden sich in geistreicher Gesellschaft: In den Fächern hinter der Glasscheibe klemmen neben Schokorriegeln und Kaugummis gelbe, an Reclambücher erinnernde Lesehefte. Ein Heft kostet einen Euro.

Sprecherin 02: Der Berliner Verlag Sukultur hat für seine Texte einen alternativen Vertriebsweg gefunden. Seit zwei Jahren verkauft er seine Hefte an Bahnhöfen in Süßwaren-Automaten. Wer für die Bahnfahrt nichts zu Lesen im Gepäck hat, kann sich noch schnell einen literarischen Snack ziehen. Zum Beispiel eine Gedichtsammlung von David Wagner.

David Wagner: „Das ist der besondere Appeal bei diesen Automaten, dass man da wahrscheinlich auch Leute erreicht, die einen sonst nie registrieren würden oder keine Buchhandlung von innen betreten. Wenn ich ganz ehrlich bin, seh ich das auch als so´n Erreichen ganz anderer Leserschichten, jenseits von dem interessierten Feuilleton- und Literaturkritikleser.“

Sprecherin 02: David Wagner hätte es eigentlich nicht nötig, bei Sukultur zu veröffentlichen. Mit seinem Roman „Meine nachtblaue Hose“, erschienen im Jahr 2000 bei Alexander Fest, hat er sich bereits einen Namen gemacht. Doch weil er mit Marc Degens, einem der Verleger von Sukultur, befreundet ist, lässt er seine Texte auch für den Automaten drucken.

David Wagner: „Diese Heftchen sind so toll, die kann man in den Briefumschlag stecken und jemandem schicken. Ich bin sonst immer zögerlich, Leuten meine Bücher aufzudrücken, [Lachen] aber diese Heftchen, die kann man dann einfach so weggeben, die können sie dann auch wegwerfen oder was weiß ich.“

Sprecherin 02: Über Jahre hat er Zeitungsmeldungen gesammelt, sie zu Gedichten umgestaltet und in einem Leseheft von Sukultur veröffentlicht.

David Wagner: „Eigentlich sind das so Prosaminiaturen, die also aus Verdichtungen aus Zeitungsmeldungen entstanden sind. (...) Die sind halt sehr konzentriert, oft nur in wenigen Versen das Drama. (...) Es ist schön, wenn die eine gewisse Irritation auslösen, es ist natürlich immer das Staunen, das steckt da drin in diesen kleinen Geschichten.(...)  Es ist halt sehr viel Leben und sein Ende da drin, ja? Naja (Lachen) so wie´s halt sein kann.“

Sprecher 01: (Wagner: „Der Kunstschütze galt als einer der wenigen Artisten“)
Vor etwa fünftausend Zirkuszuschauern
hat ein Armbrustschütze
am Sonntag in Paris
den Apfel auf dem Kopf seiner Frau
nicht getroffen
sondern ihr mit seinem Pfeil
die Schädeldecke
durchbohrt.
Der Kunstschütze
galt als einer der wenigen Artisten
die dieses Kunststück
beherrschen.

Sprecherin 02: Kunststück geglückt. Die Independents haben sich in kurzer Zeit ihren Platz auf dem Jahrmarkt der Trends und Ideen erobert. Sie haben es geschafft, unterscheidbar zu sein von anderen, kleinen Verlagen. Sie wirken sympathisch. Ihre Gründungsmythen, ihr Auftreten als „Kleine“, ihr Anderssein in Zeiten der Globalisierung und des Identitätsformalismus` heben sie heraus aus der Masse. - Carl Einstein, Dadaist, Schriftsteller und Kunsttheoretiker, schreibt in seiner großen Abrechnung mit der Moderne:

Sprecher 03: (Carl Einstein) „In der privatkapitalistischen Epoche konnte man nur als deutlich unterschiedene Person sich behaupten [...] Wollte man sich als Person durchsetzen, so mußte man die konventionellen Anschauungen übertrumpfen und verleugnen. [...] Die moderne Kunst enthielt für die Minoritäten einen bestimmten merkantilen Wert. Hier griff man die Mittel, grell sich zu unterscheiden. Die Intellektuellen verkauften dem Zahler originelle, seelische Zustände. [...] Die ungebundene, privatkapitalistische Konkurrenz hatte den Parvenu hervorgebracht. Dieser Typ bedurfte einer bluffenden, seelischen Fassade, um sich gegenüber den Alteingesessenen zu behaupten. Die Parvenus mußten flink eine Persönlichkeit improvisieren. Drum waren sie auf die Intellektuellen angewiesen, die gegen Bezahlung Individualität lieferten.“

Ulrich Genzler (Heyne): „Man kann das wertend sehen, aber man kann das auch ganz nüchtern sehen, als eine Arbeitsteilung im Kapitalismus. Hahaha. Klar wir sind der Parvenu und brauchen Identität von anderer Ecke.“ [O-Ton GENZLER parvenue]

Sprecherin 02: Ulrich Genzler von Heyne. Bei Carl Einstein ist es der Bürger, der sich Individualität erkauft, indem er ästhetische Produkte kauft, die die „konventionellen Anschauungen“ übertrumpfen. - Für einen Verlag wie Heyne, der mit einem riesigen Angebot in Konkurrenz mit anderen, ähnlich strukturierten Verlagen steht, ist es schwierig, unterscheidbar zu sein, ein klares und trennscharfes Profil zu entwickeln. Indem Heyne Taschenbuchrechte von blumenbar, Yedermann und Tropen kauft, hat er Anteil an deren Individualität, Identität und Unkonventionalität. Die Konkurrenzlinien verlaufen also nicht zwischen den kleinen Unabhängigen und den großen Verlagen. Verlage wie Heyne und einige der Independents profitieren voneinander: Die Großen erkaufen sich Charakter, den Kleinen bringt es Geld für neue Projekte. Aber wo verlaufen die Konkurrenzlinien dann? Wolfgang Farkas vom blumenbar Verlag:

Wolfgang Farkas: „Und was jetzt die großen Verlage angeht, wie Heyne oder Fischer, sind das jetzt eher auch potentielle Partner. [...] Es gibt dann traditionell literarische Verlage [..] dazu zählen sicher auch Suhrkamp und auch Hanser. Die sind in gewisser Weise natürlich schon Konkurrenz [...] Es gibt da eigentlich nicht die gemeinsame Ebene, von der aus man sich als Konkurrenz betrachten könnte. Suhrkamp hat eine Jahrzehnte lange Kultur begründet. Blumenbar existiert gerade seit drei Jahren. Das wäre ja ein bisschen vermessen, das als Konkurrenz zu sehen. Es ist aber trotzdem so, dass eine Ahnung von einem Wechsel in der Verlagslandschaft durch Verlage wie blumenbar zu erkennen ist. Also ich glaube, dass im deutschsprachigen Bereich in einigen Fällen wir die interessanteren und zeitgemäßeren Bücher machen als Suhrkamp.“ [O-Ton WOLFI suhrkamp]

Sprecherin 02: Die Konkurrenz verläuft also nicht zwischen Groß und Klein, sondern zwischen „literarisch“ und „literarisch“. Es geht um die Frage: wer ist näher am Puls der Zeit? Das Merkmal der Unterscheidung in diesem Kampf ist der:

Brauer (Yedermann): „Geschmack“ (O-TON Brauer weltverbesserer)
Schüssler (Wagenbach): „Geschmack“ (O-Ton Schüssler geschmack)
Maleu (Sukultur): „Geschmack“ (O-TON Maleu geschmack)
Farkas (blumenbar): „Geschmack“ (O-TON WOLFI geschmack)

Sprecherin02: Der Geschmack ist der feine Unterschied – wie ihn der französische Soziologe Pierre Bourdieu beschrieben hat. Der Unterschied zwischen sozialen Gruppen.

Sprecher 03: (Bourdieu)„Tatsächlich bilden sich die expliziten ästhetischen Entscheidungen nicht selten in Absetzung zu denjenigen sozial nahe stehender Gruppen heraus, zu denen die handgreiflichste und unmittelbarste Konkurrenz besteht.“

Sprecherin02: Die Suhrkamps und die Independents fischen zum Teil in denselben Gewässern. Beide bemühen sich um zeitgenössische Literatur, die etwas über die conditio humana in unserer Welt  erzählt. Momentan genießen allerdings die Jungverleger in der medialen Wahrnehmung offenbar einen Sympathievorsprung. Was die Suhrkamps einigermaßen beunruhigen dürfte.

Wolfgang Farkas: „Hahahahah. Also hahahah , ich habe nichts dagegen, Suhrkamp ein bisschen zu quälen.“ [O-Ton WOLFI quälen]

Sprecherin02: Wolfgang Farkas vom blumenbar Verlag. Gerrit Bartels, Literaturredakteur der taz über die jungen Verlage:

Gerrit Bartels: „Also es könnte sein, also da sie da sind, da sie wirklich präsent sind, (...) dass sie natürlich so den Suhrkamps und Hansers so n bisschen Feuer unterm Arsch machen. Bei Suhrkamp verändert sich ja auch gerade ne ganze Menge. Diese edition suhrkamp-Reihe, die machen ja jetzt auch diese Popcover, wo dann eben so Umschläge um diese Bücher gemacht werden. (...) Das sieht ja toll aus. Die versuchen da jetzt was. Die versuchen genau das, was bei den jungen Verlagen normal ist, (...) wo Suhrkamp sagt, okay, wir machen das auch. Also ich glaub, dass sie eben ein bisschen was verändern so in der gesamten Verlagslandschaft.“

Sprecherin02: Während Suhrkamp, bemüht um ein jüngeres Zielpublikum, ein Buch des Popsängers Adam Green herausbringt, schafft es die blumenbar mit Matias Faldbakkens Roman auf die Titelseite der Literaturtaz zur Buchmesse.

Wolfgang Farkas: „Suhrkamp macht dann ein tagebuchartiges Werk von Adam Green, um sich auch bestimmt einen Anstrich von Coolness und Jugendlichkeit zu geben, den wir nicht gemacht hätten, weil wir ihn einfach textlich schlecht finden.“ (O-Ton WOLFI adam green)

Sprecherin02: Der blumenbar Verlag setzt mit „Macht und Rebel“ des norwegischen Autors Mattias Faldbakken auf das Spiel mit der Provokation. Rebel, einer der beiden Protagonisten, versucht, seinen gelangweilten Nihilsmus zu überwinden, indem er Tabus bricht. Eigentlich Mitglied der linken Subkultur, läßt er sich Nazi-Symbole auf den Körper tätowieren und hält sich eine dreizehnjährige Freundin wie eine Prostituierte. Das alles erzählt Faldbakken in einem ironischen Ton, der auf dem Wissen zu gründen scheint, dass es auch diese Provokationen längst schon gegeben hat.

Sprecher 01: (aus Faldbakken „Macht und Rebel“): „Ich werde bei der Jugend ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es viiiel cooler ist, queer zu sein als straight, ja, verkehrt ist fetter als richtig rum, es ist fresh, kritisch zu sein, ja, und es wird pupseinfach, hörst du, pupseinfach, junge Leute davon zu überzeugen, dass sie den Mainstream ficken“.

Sprecherin 02: Die Mitglieder der Subkultur definieren sich in „Macht und Rebel“ über ihr Anderssein. Doch der eigentliche Held des Romans – oder besser der Anit-Held - mit dem bezeichnenden Namen Macht – er verkehrt als Scout einer Werbeagentur in dieser Subkultur. Er spürt neue, coole, perverse Trends auf – und verkauft sie zusammen mit Rebel als Identität stiftende Unterscheidungsmerkmale an die Industrie.

Sprecher 01: (aus Faldbakken „Macht und Rebel“): Dieselben Leute, die so hysterisch auf GLEICHHEIT zwischen den Menschen achten, finden individuelle UNTERSCHIEDE so wahnsinnig wertvoll. UNTERSCHIEDE sind was Schönes, aber wir sind alle GLEICH.

Sprecher 01: Gute Wahl, Rebel, verdammt, ganz schön abgedreht, so was Saujunges abzuschleppen, gut gedacht, Rebel, aber du sitzt trotzdem in der Falle, ja, darüber haben wir uns schon mal unterhalten, ja, über das Problem, wenn man unbedingt die ganze Zeit so besonders sein will und MUSS. Das ist das Paradox des Individualismus, ja, Rebel, und ich habe es formuliert. Ich hab sogar ein Gedicht drüber geschrieben, kann ich dir aufsagen, hier bitte:
Tausend toughe Alternativen
Zusammengefügt mit dem Leim des Individualismus
Bilden immer nur wieder
Den guten alten Mainstream.
...na? Gib schon zu, Rebel, das Gedicht sagt alles über die Scheiße, die...

AUS!