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ARD, Kontraste, 03.05.2001
Kinder in Abschiebehaft: Bundesregierung kontra
UN-Konvention
Dieses Kind ist illegal: Es ist vor Krieg und Verfolgung geflohen und
hat in Berlin Unterschlupf gefunden. Nur: nach unseren Gesetzen hat es
kein Recht auf Asyl. Das hat bei uns nur, wer staatlich verfolgt ist.
Bürgerkrieg, ethnische Verfolgung, politischer Terror sind in unseren
Gesetzen nicht vorgesehen. Aber auch solche Verfolgte dürfen hier
bleiben.
Dazu haben wir uns in internationalen Verträgen verpflichtet. Kinder
ganz besonders zu schützen, dafür haben die Vereinten Nationen
eigens die Kinderrechtskonvention geschaffen. Doch auch die schützt
sie bei uns nicht vor Abschiebung. Anja Dehne und Matthias Zuber über
Kinder, die vor Tod und Grauen geflohen sind - und dafür bei uns
wie Kriminelle behandelt werden. Nachts träumt er davon, daß
seine Eltern an seinem Bett stehen. Er hofft, dass er seinen Vater und
seine Mutter irgendwann wieder sieht. Haik ist 14. Ein Kind aus Aserbeidschan,
das seine Eltern auf der Flucht nach Deutschland verloren hat. Hier in
Berlin ist er in Sicherheit vor Verfolgung, Krieg und Bomben. Aber Haik
macht sich große Sorgen um seine Eltern. An der deutsch-polnischen
Grenze wurde er von ihnen getrennt. Seine Eltern hatten keine Papiere,
es war dunkel, und plötzlich war Haik allein, allein in Deutschland.
Haik: "Ich hab dort gesessen, zwei Stunden, drei Stunden und mein Papa und meine Mama und meine Schwester sind nicht mehr gekommen. Ich habe geweint und dann bin ich gegangen. Mir war kalt und ich hatte Hunger und Durst. Ich hab alle gefragt, ob sie mir was zu Essen geben können. Aber keiner konnte meine Sprache. Und dann ist ein Armenier auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob er mir helfen kann und der hat mich dann hierher ins Heim gebracht."
Seit zwei Wochen ist Haik in Berlin. Für die Behörden ein illegaler
Ausländer ohne Papiere. "Erstaufnahmestelle" heißt
sein neues Heim, eine Unterbringung für unbegleitete minderjährige
Füchtlinge. Die Behörden haben versucht, Haiks Eltern zu finden,
bislang ohne Erfolg.
Haik:
"Ich bin sehr traurig. Ich finde keine Worte, um zu erklären,
wie sehr ich meine Eltern vermisse."
Haik ist kein Einzelfall: Rund 10 000 unbegleitete, minderjährige
Flüchtlinge leben zur Zeit in Deutschland. Das sind Schätzungen,
amtliche Statistiken gibt es nicht. Sie fliehen vor Krieg, Verfolgung,
Hunger und Gewalt. Ihre Eltern sind tot oder verschwunden. Manchmal werden
sie auch allein auf Reisen geschickt, weil das Geld für die Flucht
nicht für alle reicht.
Für Haik wird jetzt das Jugendamt einen Asylantrag stellen. Doch vermutlich ohne Erfolg. Denn Kinder können in den meisten Fällen keine politische Verfolgung nachweisen. Und nur, wer nachweisen kann, dass er politisch verfolgt wird, hat ein Anrecht auf Asyl. Wenn Haik 16 ist, kann er zurück nach Aserbeidschan geschickt werden.
Pro Asyl kümmert sich in Deutschland um Flüchtlinge aus aller
Welt. Seit neun Jahren fordert die Organisation, die Situation von unbegleiteten
Kindern zu verbessern.
Heiko Kauffmann, Pro Asyl:
"Die Kinder kommen hierher, geprägt von Schmerz, geprägt von den Gewalterfahrungen und Kriegserlebnissen und sehen sich dann hier plötzlich in ein Verfahren gedrängt, in eine Asylmaschinerie, die nicht danach fragt, was sie brauchen, was sie an Hilfe benötigen."
So wie bei Magamet, jetzt 17 Jahre alt. Er konnte vor dem Krieg in Tschetschenien
flüchten - allein. Die Eltern musste er zurücklassen. In Berlin
kam der Minderjährige in Abschiebehaft. Inzwischen hat man ihn freigelassen.
Vorläufig. Ob sein Asylantrag Aussicht auf Erfolg hat, ist fraglich.
Warum er in Haft genommen wurde, kann er bis heute nicht verstehen.
Magamet:
"Ich war sehr niedergeschlagen, ich kam aus Tschetschenien, ich war
auf der Flucht, ich wollte mein Leben retten, und als ich nach Berlin
kam, wurde ich sofort von der Polizei geschnappt und in den Knast gestreckt.
Das war für mich sehr bedrückend. Ich habe ja eigentlich gar
nichts getan, daß ich im Knast sitzen müsste. Aber ich konnte
nichts dagegen tun. Ich bin völlig hilflos und wehrlos."
Ebenfalls in monatelanger Abschiebehaft: Holo Anand aus der Monoglei.
Seine Eltern sind tot. Auch er kam als Minderjähriger mutterseelenallein
hierher. Vor drei Wochen wurde er abgeschoben, nach Ulan Bator, wo niemand
auf ihn wartet.
Heiko Kauffmann, Pro Asyl:
"Die Mehrzahl dieser Kinder ist geprägt von Kriegs und Gewalterlebnissen,
sie sind traumatisiert durch die Verluste, die sie erlitten haben; die
Verwandten sind gestorben, Eltern sind gestorben, Freunde haben sie verlassen.
Diese Menschen benötigen unseren Schutz und unsere Hilfe und nicht
den Vorwurf, unser Asylrecht auszunutzen."
Die Vereinten Nationen haben weltweit die Rechte von Kindern festgeschrieben.
In der sogenannten Kinderrechtskonvention. Sie garantiert grundlegende
Rechte von Kindern bis zum Alter von 18 Jahren. Und stellt klar: "Bei
allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ist das Wohl des Kindes ein
Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist." Auch die
Bundesrepublik hat die Kinderrechtskonvention 1992 unterzeichnet, aber
nur unter Vorbehalt. Pro Asyl fordert seit Jahren, die deutschen Vorbehalte
rückgängig zu machen, um die minderjährigen Flüchtlinge
zu schützen.
Heiko Kauffmann, Pro Asyl: "Es fängt schon damit an, daß im Asylverfahren, die über 16jährigen nicht als Kinder behandelt werden, sondern als voll handlungsfähig wie Erwachsene Flüchtlinge. Es fängt damit an, daß sie im Asylverfahren, nicht den besonderen Schutz und die Fürsorge bekommen, die Menschen, die so jung sind, haben müssen."
Vor drei Jahren hatte Pro Asyl noch Rückendeckung von der damaligen
Oppositionspartei, der SPD. In einem Brief an Pro Asyl schrieb eine Bundestagsabgeordnete
im Namen der SPD-Fratkion: Die Kinderrechtskonvention nur unter Vorbehalt
zu akzeptieren, sei: "unerträglich. Und sicherstes Mittel zu einer kinderfreundlichen Politik ist deshalb die Abwahl der Regierungskoalition von CDU und FDP."
Inzwischen ist die SPD an der Regierung. Zuständige Staatssekretärin
ist Cornelie Sonntag- Wolgast. Immer noch können 16-jährige
Flüchtlingskinder abgeschoben werden.
Cornelie Sonntag-Wolgast, SPD: "Da ist tatsächlich die Altersgrenze
16 Jahre, die, finde ich aber, ist zu verteidigen, wenn man in der Praxis,
so wie wir es ja auch tun, in der Regel, die volle Betreuung, einschließlich
einer vernünftigen Beratung, asylrechtlichen Beratung einschließlich
von Bemühungen, dass sich die Behörden auch besonders annehmen
müssen, dieser Kinder- und Jugendlichen, ihnen besonders Beratung
und Betreuung zukommen lassen müssen. Wenn das alles beachtet ist,
dann halte ich das für vertretbar."
Leere Worte der Bundesregierung: Beratung für die Jugendlichenden
gibt es so gut wie gar nicht. Es gibt noch nicht einmal eine kindgerechte
Unterbringung in einem Jugendheim. 16-jährige landen in Asylberwerberheimen
für Erwachsene, und wenn ihr Antrag abgelehnt ist, im Abschiebeknast.
Hier sitzen sie häufig mehrere Monate hinter Gittern.
Heiko Kauffmann, Pro Asyl:
"Die Grundforderung, von der sich alles ableitet, ist: Kinderschutz muss bis zum vollendeten 18. Lebensjahr gewährt werden. Und bei Bedarf auch entsprechend dem Kinder- und Jugendhilferecht darüber hinaus. Kinder müssen kindgerecht untergebracht und versorgt werden. Kinder erhalten, wenn sie hierher kommen und Schutz und Hilfe bedürfen, Vormünder und eine gesetzliche Vertretung. Kinder dürfen nicht in Abschiebehaft genommen werden."
Wenn sich an der Gesetzeslage nichts ändert, kann Haik in zwei Jahren zurückgeschickt werden nach Aserbeidschan, wo alles zerstört ist und er niemanden mehr hat.
Haik:
"Ich will auf keinen Fall zurück, wenn ich an Aserbeidschan
denke, denke ich an den Krieg und daran, dass alles zerstört wurde,
durch die Bomben, auch mein Dorf. Ich kenne auch niemanden mehr in Aserbaidschan,
sie haben alle ihre Heimat verlassen. Ich denke auch daran, daß
dort jederzeit wieder Krieg herrschen kann und deshalb habe ich große
Angst davor, nach Aserbeidschan zurückgeschickt zu werden."
Flüchtlingskinder in Deutschland: immer noch Kinder zweiter Klasse.
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ist für sie ein
Papier mit leeren Versprechungen.
Autoren:
© Anja Dehne und Matthias Zuber / polyeides medienkontor
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