NDR, Kulturjournal, 29.07.2002

Auf der Suche nach
dem Ganzen

Harry Mulisch zum 75.


Harry Mulisch, der 75jährige holländische Schriftsteller sitzt im prunkvollen Viscontisaal des Luxushotels "Des Bains" am Lido in Venedig. Er glättet die Sitzfalten seines weißen Leinenanzuges, während er seinen Blick aus den klaren blauen Augen durch den großen Art-Deco Saal schweifen läßt:
"Es fängt immer mit einer Idee an. Und die Idee sucht dann die Bilder in meiner Vergangenheit. Die Idee sucht die Bilder, und die sind nicht die Wirklichkeit."
Mulischs Ideen sind die Suchscheinwerfer, mit denen er die eigene Vergangenheit und die Geschichte nach Bildern durchsucht. Und bei der Transformation in die Fiktion seiner Romane und Erzählungen wird die Wirklichkeit abgeschüttelt. Dem Betrachter wird dabei die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion manchmal schwer gemacht:
"Von dort aus sahen wir dieses Hotel dann immer in all seiner weißen Pracht am Meer liegen, mit eigenem Strand, und wir dachten: da müßte man mal ein paar Tage wohnen können. Jetzt wohne ich also hier....", läßt Harry Mulisch den Protagonisten Victor Werker in seinem Roman: "Die Prozedur" sagen.
Und wie sein Alter Ego residiert nun auch Harry Mulisch einige Wochen in dem Hotel am Lido, das er wegen seiner – wie könnte es anders sein – bildbehafteten Vergangenheit schätzt:


"Dass hier der Thomas Mann gesessen hat und `Der Tod in Venedig´ geschrieben hat, das ist für mich inspirierend." Und auch Mulischs Leben ist bildbehaftet und es dokumentiert wie vielleicht kein anderes die Geschichte des letzten Jahrhunderts.
Mulisch, das Kind einer jüdischen Mutter und eines mit den Nazis kollaborierenden österreichischen Vaters. Mulisch, der Berichterstatter, der in Jerusalem beim Prozeß Eichmanns für sein eigenes und das Verständnis der anderen schreibt.
Mulisch, der linke Intellektuelle, der gut gekleidet nach Cuba fliegt und bei der Amsterdamer Provo-Bewegung politische Essays über den Kommunismus verfaßt. Mulisch, das Universalgenie, das Romane, Theaterstücke, Opernlibretti, Sachbücher verfaßt, Austellungen arrangiert und Filme dreht.


Mulisch, der Schriftsteller, der nach vielen Jahren nicht mehr nur im kleinen Holland, sondern in der ganzen Welt berühmt ist.. Doch trotz seiner intensiven Beschäftigung mit dem dritten Reich und dem zweiten Weltkrieg, sind es nicht nur die Bilder der Vergangenheit, die Mulisch beschäftigen, sondern auch die der Gegenwart, so auch das angespannte Verhältnis zwischen Holländern und Deutschen.


"Die Deutschen gucken nach Osten, Russland. Und die Holländer, das sind Kaufleute, die gucken übers Meer. Und deshalb stehen sie Rücken an Rücken. Und dann hat es auch zu tun mit der Sprache. In '45 hat sich alles geändert in Deutschland, nur die Sprache nicht, mit der die Todesurteile verkündet wurden....", sagt Harry Mulisch, der nie Klischeedenken bediente und die Deutschen auf das Böse schlechthin reduzierte, sondern sie immer auch als Menschen dargestellt hat.


Aufgrund dieser moralischen Integrität, die Mulisch für viele Menschen besitzt, darf er sich auch trauen, unangenehm zu sein, gängige Bilder umzudeuten. So sagte er zum Beispiel über den vor kurzem ermordeten Pim Fortuyn: "Ein Faschist war er nicht. Er war ein Populist. Man war verliebt in diesen Mann. Und dann wurde er auch noch ermordet und dann war er heilig."


In den nächsten Tagen bekommt Harry Mulisch nach seiner Rückkehr in die Niederlande das deutsche Bundesverdienstkreuz verliehen - ein weiteres Bild in Mulischs Sammlung. Er als deutscher Ordensträger: "Das Bundesverdienstkreuz, ja wunderbar. Aber gewollt hab ich es nie. Wenn man nur alt genug wird, dann regnet das nur so auf einen herab. Da sitzt der Schriftsteller im Hotel `Des Bains´ und es geht ihm gut und er bekommt das Bundesverdienstkreuz. Das alles bin ich für andere, nicht für mich."


Was Harry Mulisch im Stillen für sich ist, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Trotzdem: zwischen Vergangenheit und Gegenwart setzen sich die Mosaikteile zu einem – wenn auch fragmentarischen - Bild eines großen Schriftstellers zusammen. Ein Schriftsteller, der es, geprägt von den Ereignissen der Zeit, immer wieder schafft, eben diese für sich neu zu erfinden.

Autor: Matthias Zuber / polyeides medienkontor