Süddeutsche Zeitung, 9./10.12.2000

Ein Dorf im Ausnahmezustand
 
Erst vor ein paar Wochen hat wieder einer behauptet er hätte mehr Kraft als Lello, Lello aus Atrani, dem stärksten Mann der Welt. Sie haben dann gewettet, wer wohl ein Klavier mehr Stufen zum Dom hochtragen kann, es mußte sowieso dorthin, für ein Konzert. Der andere hat angefangen, immerhin 25 Stufen hat er geschafft. Danach hat Lello das Klavier hochgehoben und es bis ganz hinauf getragen, über hundert Stufen. Er hat es sanft abgesetzt und gelächelt.
Atrani, ein kleiner Ort an der berühmten Amalfiküste im Süden Italiens, hat Glück gehabt, oder Pech, wie man es nimmt. Atrani steht im Schatten Amalfis, kaum einer kennt es und dadurch haben die Leute ihre Ruhe. Das ganze Geld aber, dass die Millionen Touristen hier lassen, fließt genauso an der Gemeinde vorbei, wie der Verkehr auf der Küstenstraße, die über der kleinen Piazza liegt. Aber dafür haben die Atranesen Lello und ihr Fest, Weihnachten, eine unschlagbare Kombination, da stehlen sie allen die Show.
Eigentlich ist Lello Crisciuolo Transportunternehmer, ein kleiner, quirliger Mann mit lustigen Augen und Schenkeln wie Baumstämmen, der immer dann kommt, wenn die Gassen für die Autos zu schmal sind und das ist fast überall so in Atrani. Auf seinen Schultern schleppt er bis zu 150 Kilo die unzähligen Treppen hinauf, er ist einer der Ersten, die man in Atrani zu Gesicht bekommt und immer der Letzte, der einen selber zu Gesicht bekommt. Lello trägt auch die Toten hoch zum Friedhof, am Ende der Schlucht, in der sich Atrani links und rechts die schroffen Felswände hochzieht. Elf Monate im Jahr verdient er damit sein Geld, aber im Dezember da ist Lello nur mehr für Weihnachten und ihren leuchtenden Stern zuständig, ein altes Ritual mit festen Regeln.
Immer zwei Wochen vor Weihnachten stellt Lello den Christbaum auf, das ist das Startsignal. Der ganze Ort befindet sich ab jetzt im Ausnahmezustand, alles dreht sich nur noch um Weihnachten und es scheint, daß außer Andrea von der Bar und den beiden alten Schwestern im Gemischtwarenladen keiner mehr arbeitet.
Gianfranco stülpt jeder einzelnen Glühbirne der unzähligen Laternen eine bunte Plastikmütze über, Andrea verbraucht Kiloweise Lametta für seine Eingangstür und unter Anteilnahme der gesamten Bevölkerung hängen sie in jeden Durchgang einen leuchtender Stern.
Schon Anfang der kommenden Woche wird Lello dann aus der kleinen Kapelle die mannshohen Krippenfiguren holen, alle bis auf das Jesuskind, das kommt erst am 24. um Mitternacht dazu. Lello wird die Krippe mit Stroh dekorieren und den fast nadellosen Christbaum schmücken. „Dieses kümmerliche Ding haben wir auch nur bekommen, weil wir der Forstverwaltung versprochen haben ihn danach wieder einzubudeln“ erzählt er.
Vor 1300 Jahren wurde die Region rund um Amalfi zum ersten Mal erwähnt. Zeitweise war sie eine Republik, dann abhängig von verschiedenen Herren. Ständig musste das stolze Seefahrervolk auf der Hut sein vor feindlichen Angriffen oder Naturkatastrophen. Allein sechs Kirchen leisten sich die kaum tausend Einwohner und eine tiefe, ehrliche Gläubigkeit. Und dass das einzigartige Schauspiel des leuchtenden Weihnachtssternes noch keine Touristenattraktion geworden ist liegt wohl auch an den Bewohnern selbst. Im Glauben bleibt man unter sich, fremde Ungläubige waren genug da in den letzten tausend Jahren.
Am Wochenende vor Weihnachten wird dann wieder jeder Mann gefragt sein und sei es nur um beisammenzustehen und das Geschehen zu kommentieren. Das Stahlseil zwischen dem Dom und der kleinen Kapelle auf der anderen Seite der Schlucht muß gespannt werden. An diesem Seil wird der zehn Meter lange Eisenstern, geschmückt mit hunderten von Leuchtfeuern, langsam über Atrani gleiten, hinabgelassen von Lello. Die Technik ist relativ einfach. Zuerst wird Andrea ein Hanfseil von Hausdach zu Hausdach werfen, bis rüber zum Dom, dort vertäuen sie es mit dem Anfang des Stahlseils und Lello wird dieses dann alleine vom Dom quer über die Piazza hinauf bis zur Kapelle gegenüber ziehen. Über hundert Kilo, immer schön bergauf.
Lello ist vor sechzig Jahren in Atrani geboren und hat es nie verlassen, Schnee kennt er nur aus dem Fernsehen. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder, ein kleines Haus und einen Giardino, einen Weingarten, von der Schwiegermutter. Dort entspannt er sich. Als sein Vater krank wurde, damals, mußte der zehnjährige Lello den Mehlsack für die Bäckerei nach Amalfi bringen, „naja, und dann ging das eben immer so weiter, schließlich mußte ja einer das Geld verdienen.“ Dass er so stark ist, daran sei seine Mutter schuld, behauptet zumindest Lellos Schwester Annetta: „Er hat Milch bekommen von Mamma, bis er fünf Jahre alt war. Er hat ihr einfach auf die Brust geklopft und sie hat ihn dann trinken lassen, bis er in die Schule ging“.
Am Tag vor Heilig Abend wird dann wieder die fleischlose Fastenzeit in Atrani beginnen, eine charmante italienische Übertreibung, die Festtische biegen sich unter den Fischen und Meeresfrüchten. Am Nachmittag werden sie den Stern aufhängen und hochziehen zur Kapelle, „hoffentlich wird es nicht regnen oder stürmen, das wäre ein Problem, aber die letzten 50 Jahre war Gott auf unserer Seite“, Lello zwinkert mit seinen eh schon zugekniffenen Augen. Der Rest des Ortes wird dann in einen Zustand kollektiver Erschöpfung verfallen, denn während die Männer wochenlang jede freie Mauerritze mit Weihnachtsnippes verhängen, leisten die Frauen in den heimischen Fenstern ganze Arbeit, das macht müde.
Doch nicht alle schlafen. Die Jugendlichen bestellen sich immer in der Nacht zum 24. Pizza beim Homeservice in Amalfi, betrinken sich wahllos, um dann um vier Uhr morgens schwankend vor dem Dom zu stehen. Ein ohrenbetäubender Lärm wird dann den kleinen Ort aufwecken. Carmine, der Friseur, und sein Kumpel Piedro laufen Dudelsack und Flöte spielend durch die Gassen, verfolgt von der Horde angetrunkener Jungatranesen, die Unmengen von Böllern um sich schmeissen. Sie alle sind dann die Hirten, die die anstehende Geburt verkünden werden.
Zwei Stunden später, um sechs, es wird noch dunkel sein, wird sich eine ebenso dunkle Masse Mensch vor der kleinen Kirche oberhalb der Piazza drängeln. Wie an den letzten neun Tagen, der sogenannten Novena, beginnt die Frühmesse, nur dass am 24. für gewöhnlich das ganze Dorf auf den Beinen ist. Nach der Messe werden Raketen verschossen und alle warten auf das Essen. Für das ganze Dorf gibt es am 24. morgens heißen Kakao und Gebäck uf der Piazza Umberto Uno.
Meist gegen Nachmittag kommt Atrani dann zur Ruhe, Siesta, ein bißchen vorschlafen für den Abend. Sogar Lello wird sich jetzt eine Stunde hinlegen, bevor er den Stern mit den Feuerwerkskörpern schmücken muß, „eigentlich hasse ich diese Pause, aber meine Frau...“.
30 tausend Mark kostet Atrani das jedes Jahr, viel Geld für eine Gemeinde, die fast keine Einnahmen hat. Jeder gibt soviel er kann, manche sogar einen ganzen Monatslohn.
Am frühen Abend dann werden die Frauen „Pesce al Acquapazza“ kochen, Fisch in verrücktem Wasser mit Tomaten und Knoblauch, das traditionelle Weihnachtsgericht. Für die Kinder wird es dann wieder hart werden, denn Geschenke gibt es erst wenn das Jesuskind geboren ist, also weit nach Mitternacht.
Ganz Atrani wird leuchten und funkeln, denn schon jetzt hängen an jeder Hauswand Sterne und blinken Weihnachtsbäume. Man wird sich noch einmal auf der Piazza treffen, bevor es hoch geht zum Dom, zur Christmette. Kinderchöre, der näselnde Pfarrer, Orgelattacken und laute Gebete. Kurz vor Mitternacht holt der Pfarrer das Bambinello, das Jesuskind. Ein Raunen wird wie jedes Jahr durch die Kirche gehen, obwohl sie alle es in und auswendig kennen.
Jetzt dem Pfarrer hinterher, der das Kind immer so vorsichtig trägt, als wäre es tatsächlich aus Fleisch und Blut. Während sich die Gemeinde auf den Balkonen rund um den Dom versammeln wird, wird Lello alleine und still den gegenüberliegenden Hang hochsteigen, hinauf zu seinem Stern. Um Punkt zwölf wird es zappenduster in Atrani werden, bis plötzlich ein rotes Leuchtfeuer erscheinen wird und Lello den zehn Meter langen Stern entzündet und ihn in Zeitlupe hinunter gleiten lässt. Der Pfarrer wird, wie immer, das Bambinello in die Luft halten, damit es etwas sieht, es werden Funken sprühen, die Menschen schreien, manche werden sich bekreuzigen. Und in diese unfassbare Begeisterung, diese Mischung aus Gläubigkeit und Stolz werden dann wie Kanonen die Böller knallen, alle Kirchenglocken förmlich explodieren und zu guter letzt die Autos so erschrecken, dass sie alle zu Ehren Atranis und Weihnachten im Gleichklang ihre Alarmanlagen erschallen lassen.
Über Lellos Gesicht wird ein stolzes Lächeln huschen, dann, wenn alles geklappt hat. Die Familie, Atrani und auch der liebe Gott werden zufrieden sein, und dann, dann wird er es wieder für alle hier sein, der stärkste Mann der Welt, ihrer Welt.

Text: Markus Kampp © polyeides medienkontor
Foto: Michael Amtmann