Frankfurter Rundschau Magazin, 23.12.2000

Die Überlebens-Künstlerin

Unterwegs mit einer Legende:

Am 28. Dezember wird Hildegard Knef 75. Im Sommer war sie an Bord eines Luxusliners unterwegs zu neuen Projekten in die USA. Eine Reise in die Vergangenheit.

Das Meer streichelt sanft den schwarzen Bauch der Queen. Die Gesichter der meisten Anwesenden changieren vom Grünlichen ins Leichentuchweiße. Es ist der erste Tag, an dem sich der Atlantik wieder etwas beruhigt hat. Der Luxusliner mit dem klangvollen Namen "Queen Elizabeth II" bricht sich seinen Weg durch die Wogen nach New York. An Bord: der einzige lebende internationale Star aus Deutschland: Hildegard Knef. Die Diva sitzt mit einem breitkrempigen Hut, Sonnenbrille und einem hellen Kostüm von Escada mit silbernen Pailletten-Applikationen hinter einem langen Tisch in der Midship‘s Lobby. In dem kreisrunden, luxuriösen Eingangssaal auf Deck 2 des Schiffes haben sich etwa 150 Menschen versammelt. Manierlich stehen sie in einer Reihe. Manche strecken in gepflegter Ungeduld ihre Hälse, um eine Geste mehr von "der Knef" zu sehen. Der Star gibt Autogramme. Der betagte Herr aus Amerika mit der spitzen Nase war bereits Fan in den fünfziger Jahren. Er hat sie damals live am Broadway gesehen. Das war 1954 oder '55. Und sie, die Knef, war die beste Ninotschka "ever", versichert er und nestelt nervös an seinem Seidenschal. "Really", fragt die Knef und wirkt tatsächlich erstaunt. Sie blickt ihn von unten über die getönten Gläser ihrer Brille mit großen Augen voller Mitgefühl an: "You have seen me at the Imperial Theater? Incredible. How old are you?" Der betagte Herr ist ein wenig verlegen. Siebzig, sagt er. "All the best to you!" Und der Nächste bitte. Für die Hausfrau aus Marburg, die die Schiffsreise bei einem Preisausschreiben gewonnen hat, ist Hildegard Knef eine alte Bekannte. Sie hat 1973 den Brustkrebs der Knef durchlitten, vorher Anteil genommen an der Krankengeschichte der Knef-Tochter Christina, der Scheidung von David Cameron Palastanga und dieser furchtbaren Drogenabhängigkeit. Ob "Hildchen" inzwischen die Sucht überwunden hätte? Der Star zeigt kein Anzeichen irgendeiner Irritation. Die Augen sind hinter den getönten Gläsern nur ahnbar. "Aus dem Körper bekommt man das Gift heraus, aus dem Kopf niemals", spricht sie artig, was sie schon in einigen Interviews zum Thema gesagt hat. Die Frau beugt sich zu ihr hinunter, wirft einen abschätzigen Blick nach links auf Paul von Schell, dem Knef-Ehemann, und flüstert: "Der tut ihnen nicht gut." Hildegard Knef schreibt schnell ihren Namen auf die Autogrammkarte, sagt Danke und lächelt ein Eiszapfenlächeln.

Die Mauern rauchen. Es ist Frühling; April 1945, irgendwann nach dem Neunzehnten. Berlin ist Schlachtfeld. Und irgendwo zwischen den Trümmern läuft ein blondes Mädchen in einer grauen Wehrmachtsuniform. Sie ist 18, stolpert über die Bruchstücke ihrer zu Klump geschossenen Zukunft. Malerin wollte sie werden. Das ist drei Jahre her. In der UFA-Trickfilmabteilung am Dönhoffplatz hatte sie angefangen, hatte die Aufnahmeprüfung geschafft, die Schule geschmissen. Kurz darauf die fixe Idee: "Schauspielerin. Ich will Schauspielerin werden." Vorsprechen bei Else Bongers im Berlin-Film-Büro mit viel Selbstvertrauen und Berliner Schnauze. Probeaufnahmen in den Althoff-Studios in Nowawes bei Potsdam. Sie posiert vor der Kamera in einem Badeanzug. Der Regisseur Wolfgang Liebeneiner, damals Chef der UFA in Babelsberg, wird auf sie aufmerksam. Beziehungsweise Hildegard Frieda Albertina Knef, geboren am 28. Dezember 1925 in Ulm, macht Professor Liebeneiner auf sich aufmerksam. Jedenfalls schreibt sie das so in ihrem Buch "Der geschenkte Gaul", das 1970 erscheint. Die Autobiografie wird ein Bestseller, verkauft sich auf der ganzen Welt millionenfach. Ein weiterer Höhepunkt in ihrer Karriere, wenn nicht der Höhepunkt überhaupt. Jedenfalls sagt sie das selbst in unzähligen Interviews. Das, was für sie das größte war in ihrem Leben, sei die Geburt ihrer Tochter Christina am 16. Mai 1968 und die vielen Auszeichnungen und Danksagungen für ihre Bücher und natürlich das Schreiben selbst, das, wie bereits Graham Greene sagte, einen frisst wie ein Krokodil. Die junge Hildegard Frieda Albertina Knef erhält von der UFA einen Ausbildungsvertrag über drei Jahre. Doch der Depp aus Braunau und seine arische Großmachthybris machen ihr einen Strich durch die Rechnung. Berlin liegt in Schutt und Asche, fraktales Elend. Dabei hatte die Schauspielerei gut angefangen. Kleine Rollen am Theater, die ersten Filme. Aus "Träumerei" von Harald Braun wurde sie zwar wieder rausgeschnitten, dafür ist sie in "Gebrüder Noltenius" kurz zu sehen, in "Fahrt ins Glück" hat sie sogar eine richtige Sprechrolle neben Käthe Dorsch und in Helmut Käutners "Unter den Brücken" spielt sie glaubhaft eine Schlampe.

Backbords bläst ein Wal seine Fontäne in den blauen Himmel. Die Stimme des Kapitäns schnarrt durch die Bordlautsprecher in die gepflegte Langeweile des Traumschifflebens hinein. In der Midship‘s Lobby schauen einige verunsichert. "Knef oder Wal", "Wal oder Knef" steht zwischen ihren Stirnfalten zu lesen. Die Hausfrau aus Marburg hält ihre Autogrammkarte in der einen Hand und zerrt mit der anderen am Ärmel des Sweatshirts ihres Mannes, dass das kleine Krokodil über der etwas aus der Form geratenen Brust des Gatten vor Angst zittert: "Sieht nicht gut aus die Knef. Wird im Dezember 75. Sollte sich endlich mal etwas Ruhe gönnen, aber muß ja wohl immer noch anschaffen." Sie wirft noch einmal einen verächtlichen Blick auf die beiden Männer neben der Knef und zieht das kleine Krokodil und das blau-weiße Sweatshirt samt Inhalt hinter sich her zur nächsten Attraktion. Paul von Schell und Axel Andree, der langjährige Knef-Freund und persönliche Manager, haben die letzten Bemerkungen der Hessin nicht gehört. Sie blicken etwas nervös auf die Reihe, die durch die Lautsprecheransage in Bewegung geraten ist. Einige ältere Herrschaften in neonbunter Freizeitkleidung haben sich für den Wal entschieden. Auch das Flitterwochenpärchen und die betagte Erbtante drängen an Deck. Frau Knef sitzt gelassen hinter dem riesigen weißen Tischtuch, beachtet die Unruhe mit keiner Miene, lächelt und unterschreibt eine weitere Autogrammkarte, auf der ein Bild von ihrer letzten Platte "16 Millimeter" gedruckt ist. "16 Millimeter" entstand gemeinsam mit dem Jazzmusiker Till Brönner. Sie ist ein Profi und absolviert die Autogrammstunde an Bord der Queen Elizabeth II mit der gleichen Gelassenheit wie bei Tausenden solcher Gelegenheiten davor; in noblen Hotels, edlen Buchgeschäften oder billigen Kaufhäusern. Manchmal kamen Tausende, manchmal auch nur ein paar ganz treue Fans. Je nachdem, wo ihr Stern gerade stand: ganz Oben oder nur noch ahnbar hinter dem Bewußtseinshorizont der Medien schimmernd.

Die Zeit der Inquisition scheint vorbei. Die Gesellschaft drückt sich die verlorene Tochter gnädig an die Brust. Der Veranstalter und Herausgeber der Zeitschrift "Madame", Heinz Weigt selbst, hat sie und ihren noch-nicht-Ehemann David Cameron Palastanga, den Stein des erneuten Anstoßes, zum Münchner Faschingsball eingeladen. Hildegard Knef hat den britischen Schauspieler 1959 bei Dreharbeiten in England kennengelernt. Sie verliebten sich ineinander und die Presse bekam von der Beziehung Wind. Cameron war verheiratet und Hildegard Knef, deren Name sich gerade von dem kurzen Nacktauftritt in Willi Forsts Film von 1951 erholte, wurde wieder von brutal, dick-schwarzen Lettern durch die Überschriften der Boulevardzeitungen geprügelt. Die junge Republik hatte sich noch immer nicht vom Skandal des Krieges und der Konzentrationslager erholt, litt unter kollektiver Amnesie und widmete sich mit ganzer Seele dem großen materialistischen Märchen; dem Wirtschaftswunder. Im Nachhinein war man Hildegard Knef vielleicht sogar ein wenig dankbar, dass sie Vorwand und Objekt war, ein Grundgefühl von Sauberkeit und Anstand zu re-erigieren. Dass ihre nackten Brüste den Skandal von über sechs Millionen ermordeter Juden überdeckten. Der Münchner Faschingsball 1962 war das große "Schwammdrüber". Einige Wochen vorher war sie sogar auf persönlichen Wunsch von Willy Brandt, der seit fünf Jahren Berlins regierender Bürgermeister ist, nach Los Angeles als Sonderbotschafterin geflogen. Dort eröffnete sie eine Ausstellung zur Situation des geteilten Berlins. Sie ist eine jener Deutschen, die "Dank der Gnade der späten Geburt" ihr Heimatland vom Nationalsozialismus unbelastet vertreten kann. Sie ist den Amerikanern keine Unbekannte, fast eine von ihnen. Sie lebte zwischen 1947 und '50 in Hollywood, durfte am 13. Dezember 1951 für "Decision Before Dawn" ihre Handabdrücke im Zement vor dem Hollywood Grauman`s Chinese Theatre hinterlassen und feierte von 1954 bis 1956 in 675 Vorstellungen Erfolge als Ninotschka in Cole Porters Musical "Silk Stockings". Sie war der Star am Broadway. Auf dem Münchner Faschingsball wird der Grundstein für eine neue Karriere gelegt. Heinz Weigt ermuntert die Knef eine Schallplatte aufzunehmen und vermittelt sie an den Schallplattenproduzenten Wolf Kabitzky. Zusammen mit Charly Nissen entsteht das Lied "Er war nie ein Kavalier". Sie singt in der Berliner Philharmonie und füllt auf ihrer Tournee 1968 die Gruga-Halle in Essen bis auf den letzten der 6.000 Plätze. Der Sprung ins Musikgeschäft kommt gerade recht. Als Ehebrecherin und Nacktmodell in der deutschen Presse und von deutschen Kirchenkanzeln herab verfemt, waren Filmangebote in letzter Zeit eher spärlich und sie musste sich mit Theatertourneen über Wasser halten. Ihr Geld aus Amerika futsch. "Den falschen Leuten vertraut und von Mathematik noch nie eine Ahnung gehabt", ist ihre Standardantwort auf die Frage nach ihren finanziellen Verhältnissen, die ihr immer wieder gestellt wird, bei fast jedem Interview. "Ich kann´s nicht mehr hören!"

"Danke" sagt Frau Knef und schenkt dem Küchengesellen der Queen Elizabeth II einen so herzlichen Blick, dass es ihm ganz warm in der Magengrube wird und ein sanfter elektrischer Strom über seinen Körper läuft, der all die kleinen Härchen aufstellt. "Es ist so, als würde ich sie schon immer kennen", sagt der 23jährige später. "Und sie mich", fügt er nach einer kurzen Pause hinzu. "Diese Verlorenheit, die sie in ihren Filmen ausstrahlt und die Melancholie und Einsamkeit ihrer Lieder, das alles gibt vielem eine Form, was irgendwo da drinnen ist." Er tippt mit dem Finger auf die Stelle auf seiner Brust, hinter der er wohl seine Seele vermutet. Draußen taucht gerade der Wal unter und verschwindet in den Tiefen des Atlantiks. Das Publikum hätte gerne etwas mehr gesehen. Wie das Publikum immer gerne etwas mehr sieht. "Der Hunger nach Privatem ist enorm", hat Hildegard Knef einmal in einem Interview gesagt. Hildegard Knef hat diesen Hunger auch immer wieder gefüttert. Hat ihm neue Nahrung gegeben. Wie damals bei dem Berliner Hinterhoffest, als sie an die gesamte Nachbarschaft Bouletten verteilte und Sidney Poitier als Gast zwischen den Kowalskis, Müllers und Schulzes saß. Heute würde man dazu "PR-Event" sagen. Aber was sollte sie auch anderes machen als vielseitige, große Künstlerin. Als Markenname lebte und lebt sie davon, im Gespräch zu bleiben. Manchmal drohte sie jedoch der Hunger des Publikums und der Medien zu verschlingen. Als zum Beispiel 1973 Fotos von einem elendigen Häuflein Mensch im Stern erschienen. Hildegard Knefs Haushälterin hatte die Fotos heimlich geschossen, kurz nachdem die Knef am Unterleib operiert worden war. Das ist der Preis des Ruhms, sagen viele. Der Preis dafür, Menschen unendlich viel gegeben zu haben, wie dem 23jährigen Küchengesellen auf der Queen Elizabeth II. Bei seiner Laudatio zur Verleihung des ECHO 2000 im November letzten Jahres beantwortete Roger Willemsen die Frage Hildegard Knefs: "Wieviel Menschen waren glücklich, daß du gelebt?" mit: "Wir alle sind glücklich, dass du lebst".

Die Autogrammstunde an Bord der Queen Elizabeth II ist vorbei. Das Filmteam baut die Lampen ab. Einige Journalisten haben sich bereits wieder angemeldet, um mit Hildegard Knef über den Dokumentarfilm zu sprechen, der gerade zwischen Berlin, New York und Los Angeles entsteht und der nächstes Jahr ins Kino kommen soll. Hildegard Knef sieht ein wenig müde aus. Einer ruft: "Maske!" Der Wal ist inzwischen einige Seemeilen entfernt. Der Luxusdampfer mit dem Publikum ist weiter Richtung New York gefahren und am Horizont verschwunden. Von den Menschen unbemerkt bläst der Wal seine vielleicht schönste Fontäne in den Abendhimmel über der unendlich scheinenden, jetzt rot glühenden Wasserwüste.

Text: © Matthias Zuber / polyeides medienkontor