Frankfurter Rundschau Magazin, 24.03.2001

Ausgeliefert

Krieg, Hunger, Mißbrauch: Viele Kinder flüchten aus ihrer Heimat und reisen illegal nach Deutschland ein. Hier müssen sie weiterkämpfen: um ihre Würde gegen bürokratische Willkür. Drei Schicksale in Berlin.

(Alle Namen, der im Text erscheinenden Kinder und Jugendlichen wurden auf deren Wunsch oder zu deren Schutz geändert)

Sein Grab ist oben. Etwa zweieinhalb Meter über den Industriefliesen des Fußbodens. Hinter Milchglas. Wenn das Gas in der Neonröhre zu leuchten beginnt, scheint das kalte Licht durch seine Flügel. Durch die dünnen Adern floß letzten Sommer noch Falterblut. Es sind viele, die sich zum Sterben hier in der langen durchsichtigen Lampenabdeckung zusammengefunden haben. Ein Nachtfaltervolk vielleicht. Humberto sitzt darunter an dem weißen Küchentisch mit den vielen dunklen Resopalnarben. Ein Stück Aldibrot und ein Schokoladenaufstrich sind sein Abendessen. Vorne in der Küche, gleich neben der Tür, steht eine wuchtige, dunkle Anrichte, die fremd neben den hellen Einbauschränken ihr eigenes Dasein lebt. Ein jüdisches Ehepaar hat sie dem Jungenheim vor einigen Jahren geschenkt. Die zwei Alten wollten nach Israel und der betagten Anrichte nicht noch eine Flucht zumuten. Jetzt steht sie fremd unter Fremden. Humberto ist seit drei Jahren hier am Rand von Berlin, wo der Rost alter Industrieanlagen an manchen Stellen den Boden rot gefärbt hat und freundliche Mehrfamilienhäuser sich um ein bißchen Gartengrün drängen. Humberto ist groß, kräftig und seine Haut ist dunkel. Als er 1998 in Deutschland ankam, war er gerade 15 Jahre alt, alleine und auf der Flucht. In seiner Heimat war Krieg. Und der hatte sich tiefer in seine Seele gebrannt, als das auf den ersten Blick ersichtlich war.

Wie Humberto leben zur Zeit 5.000 bis 10.000 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge in Deutschland. Genaue Zahlen gibt es nicht. Es existiert keine amtliche Statistik. Es sind Schätzungen verschiedener Flüchtlingshilfe-Organisationen und Verbände. Die Kinder fliehen vor Krieg, Verfolgung, Hunger, Armut, Gewalt. Die Gründe sind so verschieden wie die Schicksale der Jungen und Mädchen. Doch in der Bundesrepublik ist ihr Leidensweg in den meisten Fällen noch nicht zu Ende. Sie werden durch ein Sieb aus Paragraphen, Verordnungen, Ämtern, Kommissionen gepresst. Ihr individuelles Schicksal bleibt meist im Dunklen. Oft kommen sie aus Gegenden der Welt, wo die Kindheit mit der Geburt aufhört. Einige schlagen sich auf eigene Faust durch, bei anderen kratzen Eltern oder Verwandte die letzten Ersparnisse zusammen oder leihen sich Geld, um den Kindern ein Flugticket mit - wie sie glauben - Reiseziel "Sicherheit" zu kaufen, oder um eine Schlepperbande zu bezahlen. Die Kinder kommen ohne Paß und Visum auf strapaziösen und abenteuerlichen Wegen ins Land. Sie kommen illegal.

Humberto möchte nicht darüber reden, wie er von Afrika hierher kam. Nur soviel, dass er großes Glück hatte, überhaupt anzukommen. Irgendwo an einem Berliner Bahnhof, auf einem großen Platz wurde er von der Polizei aufgegriffen. Er hatte keine Papiere. Auf der Wache wurde er "erkennungsdienstlich behandelt", wie es im Amtsdeutsch heißt. Er bekam einen Fahrschein der Berliner Verkehrsbetriebe in die Hand gedrückt, ein Protokoll und einen Zettel mit einer Wegbeschreibung zur Clearingstelle in Treptow. Einer der Beamten bedeutete Humberto, dass er mit der S-Bahn dorthin fahren soll, man würde für ihn sorgen. Die Clearingstelle, die offiziell "Erstaufnahme und Clearingstelle" heißt und "EAC" abgekürzt wird, ist ein Jugendheim, in dem die unter 16jährigen Flüchtlinge die ersten drei Monate ihres amtlich registrierten Aufenthalts in Berlin untergebracht werden; bis das Vormundschaftsgericht einen Vormund bestimmt und das Jugendamt einen geeigneten Heimplatz für das Kind gefunden hat. Zu den Aufgaben der Clearingstelle gehört es, den Kindern ein Dach über den Kopf zu geben, für deren Grundbedürfnisse zu sorgen, sie bei Ämtergängen zu unterstützen und den Schulbesuch oder einen Deutschkurs zu organisieren. "Wenn die Kinder bei uns ankommen, haben sie zwei bis drei Wahrheiten als Reisegepäck dabei. Ihre eigene, die ihrer Schlepper und die tatsächliche", sagt Gottfried Günther, Sozialpädagoge und Leiter der Clearingstelle. "Wir machen mit ihnen ersteinmal eine normale Sozialanamnese." Was bedeutet, dass die Betreuer versuchen, an die tatsächliche Geschichte der Kinder heranzukommen, zu klären, wo kommen sie her, warum sind sie geflohen, wo leben ihre nächsten Verwandten. "Wir helfen ihnen, die eigentliche Wahrheit wiederzufinden und mit ihr die eigene Identität", beschreibt Günther das Selbstverständnis seiner Arbeit.

Humberto blieb bei dem Gespräch in der Clearingstelle wortkarg. Nur soviel: er kommt aus Angola und seine Eltern sind ermordet worden. Nach drei Monaten zieht er in das Jungenheim mit der dunklen Anrichte und dem Faltergrab. "Dass mit Humberto irgendetwas nicht stimmt", sagt der Leiter des Heims, "merkten wir ziemlich schnell". Humberto verhielt sich anders als die übrigen Kinder. Wenn er in der Stadt unterwegs war, versank sein Kopf im Anorak. Er schien sich förmlich in dem dunkelblauen Gemisch aus Nylon, Polyester und Daunen aufzulösen. Wenn er andere Afrikaner sah, wechselte er die Straßenseite oder rannte davon. Kurz nach seinem Einzug in das Heim ist Silvester. Als der Pulverdampf und das Knallen über der Stadt wie eine gelbe Glocke hängt, gerät Humberto in Panik. Den Betreuern gelingt es kaum, den Jungen wieder zu beruhigen. Humberto weigert sich, Fleisch zu essen: "Ich kann kein Kuh- und Schweinefleisch essen, weil Kühe und Schweine Menschen fressen." Das hätte er oft in Angola gesehen; Vieh, das sich Stücke von herumliegenden Leichen abgebissen hat. "Da verschlägt es einem ersteinmal die Sprache", sagt der Betreuer. Nachts läuft Humberto somnambul durch die Gänge des Heims, ist unruhig. Am Morgen springt er katzenhaft in die Zweibett-Zimmer der anderen Kinder, schießt mit seinen Zeigefingern imaginäre Löcher in die Bettdecken und Körper der Schlafenden, wirft einen Erinnerungsfetzen in den Raum, der explodiert: "Wuuum!" Anschließend imitiert er das Geschrei verletzter Kinder. "Bei uns gingen alle Warnblinker im Kopf auf einmal an", sagt der Heimleiter, der sofort mit dem Amtsvormund von Humberto Kontakt aufnahm und das Jugendamt bat, die Kosten für eine Therapie zu übernehmen. Humberto hatte Glück, alle Ämter spielten mit und das "Behandlungszentrum für Folteropfer" in Berlin gab ihm wegen seines jugendlichen Alters sofort einen Behandlungsplatz. Seine "tatsächliche Wahrheit" hinter der Fassade des Schweigers: Humberto wurde im Alter von neun Jahren von der angolanischen Rebellenorganisation UNITA entführt und zum Kindersoldaten ausgebildet. Sechs Jahre lang musste er in deren Auftrag morden, foltern und plündern, bis ihm die Flucht gelang. Auch heute noch hat er Angst, in Deutschland von UNITA-Anhängern entdeckt zu werden. "Er hat Dank der psychologischen Betreuung eine ganz erstaunliche Entwicklung durchgemacht", sagt der Heimleiter. "Der Junge hatte wirklich Glück im Unglück, denn die meisten Kinder, die ein solches Schicksal hatten, landen im Asylverfahren und sind wegen ihrer Traumatisierung überhaupt nicht aussagefähig. Dann kommt die Ablehnung. Wenn das Kind einen engagierten Vormund hat, klagt der gegen die Entscheidung, doch meist mit wenig Erfolg." Das Ergebnis: Abschiebung.

Nach dem in Berlin gängigen Verfahren für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge unter 16 Jahren setzt das Gericht meist eine Amtsvormundschaft ein. Die wird von der "Vormundschaftsstelle für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge" im Jugendamt Treptow ausgeübt. Drei Beamte sind momentan für 425 Mündel zuständig. Nach Paragraph 1793 des Bürgerlichen Gesetzbuches gehört zu den Aufgaben des Vormundes der gesamte Bereich der elterlichen Sorge. Der Vormund muß sich um das leibliche und finanzielle Wohl seines Mündels kümmern und ist dessen gesetzlicher Vertreter. Bis Ende 1995 übernahmen Wohlfahrtsverbände und Vereine die Vormundschaften für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge. Die verschiedenen Stellen waren jeweils spezialisiert auf bestimmte Herkunftsregionen. So kümmerten sich die Vormunde der Berliner Diakonie hauptsächlich um Kinder aus arabischen Ländern. Doch die Vereinsvormundschaften schienen ihre Arbeit zu ernst genommen zu haben und waren dem Senat mit ihrem Engagement für die Kinder zu unbequem. Deshalb wurde den Organisationen die Finanzierung auf ein Niveau zusammengestrichen, das ihnen ihre weitere Arbeit unmöglich machte, meint jedenfalls der "Arbeitskreis junger Flüchtlinge" in seinem "Leitfaden - Junge Flüchtlinge in Schule und Ausbildung". Claudia Schippel war Anfang der 90er Jahre Vormund beim Berliner Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes. "Wir waren damals zu zweit und betreuten jeder etwa 50 bis 70 Mündel", erinnert sie sich. Mitte der Neunziger forderte der Senat von den Vormündern, dass jeder mindestens 200 Mündel für das gleiche Geld zu betreuen hätte. "Das war nicht machbar", sagt Schippel. "Wir steigerten uns auf 150 Mündel pro Vormund, aber das war eigentlich nicht mehr verantwortbar." 1995 strich der Senat die gesamten Gelder. Damit war in Berlin das Projekt Vereinsvormundschaften gestorben. Über die Asylmündigkeit entscheidet in Berlin ein Mitarbeiter der Senatsverwaltung für Jugend, Familie und Sport. Herr Steinke regelt die verwaltungsrechtliche Betreuung der Ankömmlinge in der Clearingstelle. Er nimmt die Personalien auf und prüft die Asylmündigkeit. Wenn er der Meinung ist, dass ein minderjähriger Flüchtling bei seiner Altersangabe gelogen hat, greift die Ausführungsvorschrift "AV-MASY, Nummer 2, Ziffer 3, Buchstabe a bis c". Der Flüchtling muß dann in einem vorstrukturierten Gespräch vor einem Gremium glaubhaft machen, dass er nicht asylmündig, das heißt, noch keine sechzehn Jahre alt ist. Kinder, die über 16 Jahre alt sind, oder so geschätzt werden, werden laut Statistik nur etwa zu einem Drittel wie erwachsene Asylsuchende behandelt und über das bundesweit praktizierte Verteilungsverfahren irgendwohin in der Republik in ein Asylbewerberheim gesteckt. Und selbst da, sagt Steinke, haben sie Anspruch auf die Jugendhilfe in dem betreffenden Bundesland. Aber einmal in den Mühlen der Asylmaschinerie ist es schwierig für die Kinder, ihren Anspruch auf Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz durchzusetzen, das in Paragraph 1 vorsieht, dass jedes Kind "ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit" hat. Die gängige Praxis kritisieren Flüchtlingshilfs-Organisationen und das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR). Denn Kinder gehören nicht in Sammelunterkünfte zusammen mit Erwachsenen, sondern in Jugendhilfeeinrichtungen, wo sie altersgemäß betreut werden. Herr Steinke weist noch darauf hin, dass in seltenen zweifelhaften Fällen sogar die Wissenschaft bemüht wird, um das korrekte Alter festzustellen. Hat nämlich der Amtsvormund Zweifel an der Richtigkeit der Altersangabe seines Mündels, stellt er beim Amtsgericht Köpenick einen Antrag auf Aufhebung der Amtsvormundschaft. Teilt das Gericht die Zweifel, erhält das Mündel, will es seine Altersangabe aufrecht erhalten, die Aufforderung, sich medizinisch begutachten zu lassen.

Der Raum ist so sachlich wie das Verfahren. Übersichtlich. Kahl. Hell. Neonlicht. Eng. Vier mal zwei Meter fünfzig. In der Luft hängt der Geruch von ausgetretenen Turnschuhen und Desinfektionsmitteln. Der Mann in dem weißen Kittel sagt, dass Sultan sich ausziehen soll. Sultan kommt aus Bangladesch. Sultan ist Moslem. Als er zögert, auch die Unterhose abzustreifen, weist ihn der Mann im weißen Kittel darauf hin, dass seine mangelnde Kooperation bei der Altersbestimmung gegen ihn verwendet werden wird. Sultan schämt sich. Er ist nackt. Er wird fotografiert. Der Mann in dem weißen Kittel begutachtet die Hoden von Sultan. Sultan wird übel. Der Mann im weißen Kittel gehört zum rechtsmedizinischen Institut der Charité, die unter der Leitung von Professor Gunther Geserick steht. Das Institut erstellt "medizinische Altersschätzungen". Anhand der Begutachtung, unter anderem der primären Geschlechtsmerkmale, des Kehlkopfs und der Zähne schätzen die Mediziner das Alter der Flüchtlinge. Professor Geserick selbst räumt ein, dass die medizinische Altersschätzung um ein bis zwei Jahre vom tatsächlichen Alter abweichen kann. Das komme von den sozio-ökonomischen Faktoren, die die biologische und psychische Entwicklung der Kinder beeinflusse. Diese Faktoren seien schwer zu erfassen und könnten in der Begutachtung nicht festgestellt werden. Sultan jedenfalls hat sein Ergebnis nicht mehr erfahren. Kurz nach der Untersuchung tauchte er nicht mehr im Garibaldihaus auf. In dem Jungenheim für minderjährige Flüchtlinge im Berliner Stadtteil Wilhelmsruh lebte Sultan zwei Jahre. Als er am 30. September 1997 in Berlin ankam, ist er gerade 15 Jahre alt geworden. Der Amtsvormund in Treptow stellte für Sultan einen Asylantrag, der Mitte Juni 1999 abgelehnt wird. Sultan klagt dagegen am 1. Juli. Die Amstvormundschaft, die noch immer die gesetzliche Vertretung Sultans ist, zieht die Klage zurück und veranlaßt die medizinische Altersschätzung. Ihre paradoxe Argumentation: Wenn Sultan vor seinem offiziellen 16. Geburtstag selbständig eine Klage einreicht, muss er wohl über 16 Jahre sein. Sultan, der bis dahin ein guter Schüler war, sackt in der Schule ab. Er klagt über Kopfschmerzen. Der Druck nimmt zu. Irgendwann hält er ihn nicht mehr aus, taucht unter und lebt jetzt als einer jener, die von Statistiken ungezählt illegal durch Europa ziehen. Die Amtsvormundschaft darauf angesprochen, dass sie nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch verpflichtet ist, nur zum Wohle des Kindes zu handeln, antwortet kurz und amtlich korrekt. Gerade die Rückziehung der Klage sei in Hinsicht auf das Wohl des Kindes passiert, da ein Asyl für einen Bangladeschi nicht durchsetzbar ist und man keine falschen Hoffnungen bei Sultan wecken wollte. Außerdem, das sagt das Amt nicht, spart man durch eine schnelle Abschiebung Geld.

Momentaufnahmen: Das dicke Stahltor verschließt das schwarze Loch, aus dem sie gerade wieder in den Matsch des Berliner Alltags tritt. Die Frau sieht auf den ersten Blick zerbrechlich aus. Sensibel. Eine Musikerin vielleicht, oder eine Malerin. Hinter ihr duckt sich der hässliche, dunkelgraue Betonplattenbau unter dem blauen Himmel. Das Gebäude verdeckt seine Fenster mit einer dicken Mauer als hätte es ein schlechtes Gewissen. Auf dem Betonwall spielt Natodraht mit der Lederhaut eines ehemaligen Fußballs im Wind. Kate Halvorsen ist Senior Policy Officer des UNHCR und auf Dienstreise. Sie arbeitet in einem Programm des UNHCR, das sich "Separated Children in Europe" nennt und die Situation der unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlinge untersucht. Sie trifft sich mit Hilfsorganisationen, offiziellen Stellen und besucht verschiedene Abschiebegewahrsams. Heute morgen war sie in dem Berliner Abschiebegewahrsam, einem ehemaligen DDR-Gefängnis, zwischen Baufirmen, Hotelwäschereinigungsfabriken und Wohnhäusern in Grünau. Sie ist ein wenig blaß. "Es ist keine angenehme Atmosphäre da drin", sagt sie. "Auf der einen Seite hat Deutschland eine der besten Verfahrensweisen für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge unter 16 Jahren ausgebildet im Bereich Jugendhilfe und Unterstützung. Jedoch haben wir hier auch die paradoxe Situation, dass andererseits 16 und 17jährige in Gefängnissen wie diesem eingesperrt und abgeschoben werden." Mit seinem Vorbehalt stünde Deutschland in Europa alleine. Jedoch hofft Halvorsen, dass mit einer Angleichung der Flüchtlingsgesetzgebung in Europa der ausländerrechtliche Vorbehalt Deutschlands gegen die UN-Kinderrechtskonvention aufgehoben werden wird. "Denn das sind Kinder", sagt die Frau vom Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen und steigt in ein Taxi. Der Wagen biegt links in die Grünauer Straße und verschwindet im dunstigen Strom der Straßenbahnen, Busse und Autos.

Ali kam mit dem Lastwagen. Ali versteckte sich über Tage auf einer Metallkiste zwischen den mächtigen Rädern des LKWs. Er ist jetzt 12 Jahre alt. Er sitzt auf dem IKEA-Sofa in dem großen, hellen Aufenthaltsraum der Clearingstelle. Er trägt weite Trainingshosen und ein grünes T-Shirt. Es ist sein zweiter Tag in dem großen Haus. In der Vorhalle spielen einige Vietnamesen laut Tischfussball. Nebenan läuft ein Fernseher. "Mr. Bean". Die wortlosen Späße des britischen Komikers sind das einzige, was hier alle verstehen. In der Clearingstelle leben über 50 Kinder aus über 20 Nationen. Ali hat große, dunkelbraune, wache Augen. Es regnet draussen und Berlin sieht noch ein wenig grauer aus als sonst. Einer seiner Betreuer hat Ali geraten, er solle darauf bestehen, dass sein richtiger Name nicht in der Zeitung erscheint. Schließlich könnten bestimmte Geschichten, die er jetzt erzählt, seinem Asylverfahren schaden. Ali läßt sich von dem Dolmetscher noch einmal erklären, was das sei - Asylverfahren. Ali lacht. Asylverfahren! Ali sagt: "Vergiss es." "Was?", fragt der Dolmetscher. "Ich bleibe nicht hier", sagt der Zwölfjährige. Deutschland gefalle ihm nicht. Zu kalt, zu grau, zu viel Polizei. Er war, als ihn die Beamten des Bundesgrenzschutz geschnappt haben, auf dem Weg nach Dänemark. Ali erzählt. Mutter und Vater kennt er nicht. Er wuchs bei einem Onkel in Algerien auf. Kein leiblicher Verwandter betont er, einfach ein Onkel eben. Irgendwann haut er ab. Da muß er acht oder neun Jahre alt sein. In Spanien lebt er auf der Straße. Illegal. Er stiehlt, verkauft Drogen. Stolz ist er darauf nicht. "Gott ist groß", sagt er und meint wohl damit, dass der einem so kleinen Kerl mit so großen braunen Augen und so einer Geschichte schon vergeben wird. Eines nachts, er hatte sich in einem Abbruchhaus versteckt, reissen ihn einige junge Männer aus den Schlaf. Wieviele es genau waren, weiß er heute nicht mehr. Sie verprügeln ihn, übergiesen ihn mit Benzin und zünden ihn an. Ali springt durch eines der Fenster, rettet sich ins Freie. Der Dolmetscher guckt ein wenig ungläubig. Das Offene, Kindliche aus Alis Augen verschwindet, sie werden hart und schmal. Sein Gesicht wirkt plötzlich, wie das eines ganz alten Mannes. Er ist gekränkt. Langsam rollt er das grüne T-Shirt nach oben und zeigt seinen Rücken. Eine einzige große Narbe. Seine Erzählung wird sachlicher. Von Spanien schlägt er sich nach Frankreich, von dort nach Italien durch. Italien gefällt ihm nicht. "Zu kaputt", sagt er. In Mailand ist er mit Gleichaltrigen zusammen, die an der Nadel hängen. Er verkauft wieder Drogen. Über die Schweiz und Belgien kommt er nach Deutschland. In der Nähe von Düsseldorf verhaftet ihn die Polizei. Er kommt ins Gefängnis. Ob das ein normales Gefängnis oder ein Abschiebegewahrsam war, das weiß Ali nicht. Er weiß nur soviel, dass er dort nach deutschem Recht nichts verloren hat. Er schlitzt sich den Arm auf. Der Gefängnisarzt holt ihn raus. Ali wird in ein Heim gebracht. Nach einem Tag haut er wieder ab. Er will nach Dänemark. Jetzt sitzt Ali mit seinen vielen Narben auf dem IKEA-Sofa in der Berliner Clearingstelle. Welche der vielen Wahrheiten, mit denen die Kinder hier ankommen, das jetzt ist, weiß niemand. Die Narben auf Rücken und Arm jedenfalls sind so real wie der Fernsehturm draußen. Alis Fall kommt demnächst vors Vormundschaftsgericht. Die Amtsvormundschaft wird dann wieder einmal obligatorisch einen Asylantrag stellen, um den Aufenthalt ihres Mündel zu legalisieren. Ali wird die Ablehnung wohl gar nicht mehr bekommen. Er wird dann - "wenn Gott will", wie er sagt - irgendwo in Europa wieder auf seiner Suche nach dem Land sein, "in dem es mir gut geht".

"Ich verstehe nicht, wieso eine deutsche Behörde meint, einen Antrag stellen zu müssen, der völlig unbegründet und aussichtslos ist", sagt Ronald Reimann. "Eigentlich ist ein derartiges Vorgehen sogar Rechtsmißbrauch. Als Anwalt wäre ich meinem Mandanten in einem solchen Fall schadensersatzpflichtig." Der Berliner Rechtsanwalt ist selbst Berufsvormund und hat auch einige unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge als Mandanten. Er kennt aus eigener Erfahrung das Vorgehen der Vormundschaftsstelle des Jugendamtes Treptow. Für eines seiner jetzigen Mündel, ein 15jähriges mongolisches Mädchen, stellte die Amtsvormundschaft auch obligatorisch einen Asylantrag, obwohl ganz offensichtlich keine asylrelevanten Fluchtgründe vorlagen. "Sie suchte zwar Schutz, aber eben nicht vor staatlicher Verfolgung", sagt Reimann. Dabei gibt es eine Alternative zum Asylantrag. Im Fall des mongolischen Mädchens hätte der Vormund, wenn er denn im Interesse seines Mündels hätte handeln wollen, bei der Ausländerbehörde einen Antrag auf vorübergehende Duldung stellen müssen, mit dem Ziel, einen Aufenthalt aus humanitären Gründen zu bekommen, argumentiert Reimann. Die Duldung kann gewährt werden, wenn aus tatsächlichen Gründen, wie dem Fehlen von Ausreisepapieren oder wenn in dem Land, in das abgeschoben werden soll, keine Familie oder staatliche Einrichtung vorhanden ist, die sich um den Minderjährigen kümmern kann. In derartigen Fällen kann die Ausländerbehörde eine "Aufenthaltsbefugnis aus dringenden humanitären Gründen" gewähren. Obwohl er seine Bedenken der Amtsvormundschaft mitgeteilt hat, stellte die dennoch einen Asylantrag. Reimann beantragte im Einverständnis mit dem Mädchen, die Vormundschaft auf ihn zu übertragen. Mit Erfolg. Der bereits gestellte Asylantrag jedoch wurde, wie erwartet, juristisch korekt als "offensichtlich unbegründet" abgelehnt. "Das war wieder eine Zahl mehr in der Statistik des Asylmissbrauchs", sagt Reimann bitter. Das Mädchen kann immerhin auf Reimanns Intervention hin bis zum Abschluß der Schule in Deutschland bleiben.

Die Neonröhre summt leise. Ihr kaltes Licht scheint durch die Insektenflügel. Durch die dünnen Adern floß letzten Sommer noch Falterblut. Es sind viele, die sich zum Sterben hier in der langen durchsichtigen Lampenabdeckung zusammengefunden haben. Ein Nachtfaltervolk vielleicht. Humberto sitzt darunter an dem weißen Küchentisch mit den vielen dunklen Resopalnarben. Das Stück Aldibrot mit dem Schokoladenaufstrich ist fast aufgegessen. Auch Humberto hatte Glück, dass er einen privaten Einzelvormund gefunden hatte, der sich für ihn eingesetzt hat. "Vieles", meint der Heimleiter, "wäre wohl mit dem Amtsvormund so nicht machbar gewesen". Nach dem Vormundschaftsrecht genießen Einzelvormunde den Vorzug vor Amts- und Vereinsvormunden. Das wurde von verschiedenen Fachleuten, die mit unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen arbeiten, zum Anlaß genommen, 1997 ein Netzwerk von Einzelvormunden einzurichten. AKINDA, was ausgeschrieben "ausländische Kinder in Deutschland allein" heißt, organisiert und betreut Privatpersonen, die sich bereiterklären, eine Vormundschaft für eines der illegalen Kinder zu übernehmen. Humberto wäscht seinen Teller ab und stellt ihn in die dunkle Anrichte zurück. Es ist etwas nach 19 Uhr. Er muß sich beeilen, sonst kommt er zu spät zur Probe. Humberto hat sich in Berlin taufen lassen und singt im Kirchenchor einer Pfingstgemeinde. Zu dem Heimleiter hat er neulich gesagt: "Ich weiß nicht, ob ich es jemals schaffe, eines eurer normalen Leben zu führen. Aber eines weiß ich genau, Gott hat mir eine schöne Stimme gegeben und ich möchte singen." Humberto wirft sich seinen dunkelblauen Anorak über und macht sich auf den Weg in die Kirche, wo er neben der Selbstbestätigung durch die Musik wohl auch so etwas wie Erlösung findet. "Das ist aber für eine Zeitungsgeschichte zu dick, zu viel Klischee", sagt der Heimleiter, "und dennoch: c´est la vie - hier - zumindest manchmal".

Text: © Matthias Zuber / polyeides medienkontor; Mitarbeit: Annika Grimme / polyeides

Foto: © Christiane von Enzberg